Sonntag, 28. Dezember 2008

Congedo illimitato provvisorio


Vor genau dreißig Jahren ermöglichte der Nouvel Observateur
ein stilistisches Experiment. Die Zeitschrift ließ Roland Barthes
Dezember 1978 bis März 1979

Samstag, 20. Dezember 2008

Lux ex luce


The diagonal of May 25, 1963 (to Robert Rosenblum),
Leuchtstoffröhre (2,44 m) auf Wand (45°), 1963.


"Irgendwie glaube ich, dass der sich ändernde Standard
des Beleuchtungssystems meine Idee in sich weitertragen
sollte. [...] Das Medium trägt den Künstler." (Dan Flavin)

Es gibt kaum einen Gegenstand der Alltagskultur, der
noch nicht in aller Ausführlichkeit dargestellt worden wäre.
Doch über die Umwälzung in der Beleuchtungskultur, die
sich in den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts vollzog,
sucht man selbst den kleinsten Hinweis vergeblich. Denn
damals verschwanden
die alten Glühlichtanlagen aus den
Fabriken, Großraumbüros und Kaufhäusern, um durch
Leuchtstoff-Systeme ersetzt zu werden. Die Geschichte
des Leuchtstoffröhrenlichts, das nahezu alle öffentlichen
Innenräume ausleuchtet, liegt im Dunkeln. Anders als die
Neonröhre, die als Komplizin von night life und Reklame
der sogenannten Kulturwissenschaft der Gesellschaft des
Spektakels zwangsläufig zum Gegenstand werden musste,
hat die Leuchtstofflampe als Lichtregime der Arbeitswelt,
Untergrundbahnen, Verwaltungen und Schulen nur wenig
Freunde finden können.

Ein binäres Licht-System entstand, dessen Werte aus dem
Bereich der gefühlten Temperatur stammten: warm und kalt.
Während man seither das "kalte" Licht der Leuchtstoffröhre
mit Disziplinierung und Kontrolle assoziiert, verbindet man
das "warme" mit Vergnügen und intimer Ausgelassenheit. Nur
vereinzelt trifft man auf Nationen, die einen Kult zu Ehren des
kalten lux ex luce (
um vom menschlichen Auge wahrgenommen
werden zu können,
muss die vom Quecksilberdampf emittierte
UV-Strahlung
von Leuchtstoffen an der inneren Glaswand der
Röhre in sichtbares Licht verwandelt werden) entwickelt haben.
Man erzählt sich, dass die Yoruba der amerikanischen Diaspora
ihre Kinderzimmer mit blauem Fluoreszenzlicht ausleuchten.
Auch strahlt in den 70er Jahren aus zahllosen Küchenfenstern
das cool white einer zum Kreis gebogenen Röhre in die Nacht,
hier und da ergießt sich farbiges Röhren-Licht über subtropische
Zimmerpflanzen.
Mit Punk hört das Nachtleben Ende der 70er
Jahre
auf, lichtscheu zu sein: Die Nacht erstrahlt »...in daylight
or cool white«
. Flavin hatte Recht behalten. Aber wie kam das?

Am 25. Mai 1961 kündigte der 35. Präsident der USA in einer
Regierungserklärung an, noch im Laufe des Jahrzehnts einen
Menschen nicht nur auf den Mond zu schießen, sondern auch
wieder unbeschadet zur Erde zurückzuholen. Auf den Tag genau
zwei Jahre später antwortete Dan Flavin mit der Befestigung einer
8 feet (2,44 m) langen Leuchtstoffröhre im Winkel von 45 Grad
an einer Wand seines Brooklyner Lofts. Das ehrgeizige Apollo-
Programm diente vor allem dazu, einen Farbfernsehstandard
weltweit durchzusetzen, Flavin griff auf eine im wahrsten Sinne
des Wortes bestellbare "standardisierte industrielle Vorrichtung"
zurück. 1965 beschrieb Flavin in der autobiographischen Skizze
«...in daylight or cool white» den fluoreszierenden Lichtstreifen
als "schwebendes gasförmiges Bild, das durch seine Leuchtkraft
die physische Gegenwart fast bis zur Unsichtbarkeit verleugnete"
und "den tatsächlichen Raum aufzulösen imstande war".

Samstag, 13. Dezember 2008

Gusto filologico


Le pause di "Mamma Roma"
Diario al registratore
3. Mai 1962


Rosso Fiorentinos Kreuzabnahme (1521)


Pontormos Grabtragung Christi (1525-28)

Samstag, 6. Dezember 2008

Isola degli angeli


"Dreizehn Jahre streunte ich in einem wunderlichen Freige-
hege,
verbrütete die zweitbesten Zeiten meines Lebens in
einem erstaunlichen Torso, einer spürbar unvollständigen

Stadt. Obgleich ein Unbehauster, war ich zu Hause
nur zu
Haus – nur ein paar Ecken weit reichte die Sympathie,
das
reichte.
[...] Ich war nach Berlin gegangen, weil ich London
und New York City näher sein wollte – und nicht
Leipzig,
Brest oder Wroclaw. Was bedeuten Pomoschtsch,
Bolschoi
und Narodni? Ich verstehe weder Polnisch oder
Russisch noch
Serbisch oder Sorbisch. Ich war hierhergekommen,
weil ich
den Westen in zugespitzter, gleichwohl
auch teilannullierter
Form erleben wollte."

So steht es in
Zeuge der Einheit, der ersten von "sieben neuen
Lektionen", die
Der gelernte Berliner Bernd Cailloux seit dem
Mauerfall durchgenommen hat. Sie sind kürzlich bei Suhrkamp
erschienen. Wer Anfang Dezember
der Präsentation des West-
Berlin-Hefts der Zeitschrift für Ideengeschichte beiwohnte,
wird es bedauert haben, dass nicht Cailloux, sondern Schlögel
auf dem Podium saß. Denn
außer Ressentiment hatte der Ost-
europaexperte zum Gegenstand nichts beizutragen: Er habe
nichts sehnlicher erwartet, als die Abwicklung des Zustandes
"West-Berlin" und im übrigen bereits in den 70er Jahren der
Stadt den Rücken gekehrt. Ganz weit vorne habe er damit
gelegen; schließlich sei der Dichter Hans Magnus Enzensberger
seinem Beispiel gefolgt und habe Friedenau 1979 richtung
München verlassen...

Folglich waren die in der intellektuell verödeten Stadt
Zurück-
gebliebenen
von allen guten Geistern verlassen. Schon bald
soll diese Lücke jedoch von besseren Geistern geschlossen
worden sein. Man erzählt sich nämlich, dass sich eine kleine
Schar Engel Ende der 70er Jahre in den Neubau der Staats-
bibliothek einquartiert habe. Dort hätten sie sowohl den
Zurückgebliebenen als auch den Zugezogenen bei der Lektüre
beigestanden. Anders als die brillanten Geister, die der Stadt
den Rücken gekehrt hatten, sollen sie unaufdringlich gewesen
sein, so gut wie unsichtbar.



Theologen vermuten, dass diese Engel strafversetzt wurden,
weil man sie des Pelagianismus verdächtigte. Pelagius vertrat
bekanntlich den Standpunkt, dass die Gnade unverlierbar sei.
Doch wozu Engel, wenn der Mensch die Gnade nicht verlieren
kann, weil er wesentlich sündlos ist. Einem Gott, der davon
überzeugt ist, dass die Schöpfung zugrunde ginge, wenn sie
nicht unablässig gewartet werden würde, müssen Mitarbeiter
suspekt sein, die, statt Führungsqualitäten zu beweisen und
die Menschen zu lenken, sich darauf beschränken, ihnen
Beistand zu leisten.


Weder führen, noch lenken, nicht einmal schützen, sondern
einfach alles so irreparabel sein lassen, wie es ist. Nichts tun
außer den Menschen buchstäblich zu assistieren, bei ihnen zu
stehen, egal was sie tun. In der himmlischen Hierarchie steht
dieser Engels-Dienst Gott allein zu. In West-Berlin wurde er
versuchsweise am Menschen ausgeübt. Das Ergebnis war ein
neuer Künstlertypus: der geniale Dilletant (Dilettantismus
plus Engel: [v.l.n.r.] Otto Sander als Engel Cassiel, Blixa Bar-

geld und Nick Cave).

Sonntag, 30. November 2008

Advent


Allem Anschein nach hat das Warten auf Das Reich und die
Herrlichkeit
nun bald ein Ende. Lediglich einige, die Wahl
der Worte betreffende Fragen sind noch offen. Diese jedoch
haben einen fatalen Hang zur Aporie. Die Schwierigkeiten
beginnen bereits bei der Übersetzung des Titels: Il Regno e
la
Gloria. Unwillkürlich denkt man an die Doxologie, die das
Vater unser beschließt:
Tuo il regno, Tua la potenza e la
gloria nei secoli dei secoli ("Denn Dein ist das Reich und die
Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit")
. Ist diese Anspielung
gewollt? Einiges spricht dafür. Immerhin kulminiert das Buch
in einer "Archäologie der Herrlichkeit" (Archeologia della gloria),
wie das achte und letzte Kapitel überschrieben ist. Ein Bezug
zur Doxologie ist also gegeben. Denn Doxologie bezeichnet
bekanntlich das feierliche, gebetsabschließende Rühmen der
Herrlichkeit Gottes (von griechisch: doxa, im Bibelgriechisch
Übersetzung für hebr. kabód; lat. Äquivalent gloria
). Ein Buch,
das der Frage nachgeht, "weshalb die Macht der Herrlichkeit,
also jenes liturgisch-zeremoniellen Aufwands, der seit jeher
um sie betrieben wird, bedarf", wird naheliegenderweise auch
auf den akklamatorischen Aspekt der Liturgie eingehen müssen.


Die Vorbereitung des Thrones, Sankt Paul vor den Mauern, Rom

Zunächst scheint die Übersetzung des Titels also alles andere
als problematisch zu sein. Im Rückgriff auf die deutsche Fassung
der Lobpreisung erhält man den schönen Titel Das Reich und die
Herrlichkeit. Zur theologischen Genealogie von Ökonomie und
Regierung. Allerdings ist die Freude über den gelungenen Titel
nur von kurzer Dauer. Denn das vierte Kapitel heißt Il regno e il
governo. Ausgehend von dem "geflügelten Wort" le roi règne, mais
il ne gouverne pas ("der König herrscht, regiert jedoch nicht")
präpariert Agamben hier aus der merkwürdigen Gestalt des rex
inutilis die strategische Unterscheidung von Herrschen und Regieren,
das Paradigma
Herrschaft / Regierung (paradigma Regno / Governo)
heraus. In diesem Zusammenhang tut man sich schwer, regno mit
"Reich" zu übersetzen. Auf deutsch muss der Titel des 4. Kapitels
Herrschaft und Regierung lauten. Doch was bedeutet das für den
Titel des Buches. Sollte man ein so zentrales Wort nicht einheitlich
übersetzen und von dem Verweis auf die Doxologie absehen? Dann
hieße das Buch Herrschaft und Herrlichkeit. Auch ein schöner Titel.

Sonntag, 23. November 2008

Tiqqun


Tiqqun, Theorie vom Bloom, Zürich-Berlin, diaphanes, 2003.

Am 19. November 2008 erschien in Liberation ein von Martin
Rueff übersetzter Artikel Giorgio Agambens mit dem Titel:

Terrorismus oder Tragikomödie

Im Morgengrauen des 11. November umstellten 150 Polizisten,
überwiegend Angehörige von Antiterroreinheiten, ein 350-Seelen-
Dorf auf der Hochebene von Millevaches, bevor sie einen Bauern-
hof stürmten und neun junge Leute festnahmen - die
die Épicerie
übernommen hatten
, um das kulturelle Leben des Dorfes wieder-
zubeleben. Vier Tage später sind die neun Verhafteten einem
Antiterrorrichter vorgeführt worden: die Anklage lautete auf
»kriminelle Vereinigung in terroristischer Absicht«. Die Zeitungen
berichten, dass sich der Innenminister und der Staatschef »bei
der Polizei und der Gendarmerie für ihren Diensteifer (diligence)
bedankt haben«. Es scheint also alles in Ordnung zu sein. Wir wollen
die Fakten jedoch etwas genauer betrachten, um den Grund und das
Ergebnis dieses »Diensteifers« besser beurteilen zu können.

Zunächst der Grund: Die jungen Leute standen »unter polizeilicher
Beobachtung, weil sie der extremen Linken, der anarcho-autonomen
Bewegung angehören«. Aus dem Umfeld des Innenministers heißt es
ergänzend, dass »sie sehr radikale Meinungen
vertreten und
Verbindungen zu ausländischen Gruppierungen unterhalten«. Doch
damit nicht genug: Einige der Verhafteten »nehmen regelmäßig an
politischen Demonstrationen teil«, zum Beispiel »an der gegen die
Edvige-Datei und der gegen die Verschärfung der Maßnahmen gegen
Einwanderung«. Politische Parteinahme (welche Bedeutung könnte
ein Wortungetüm wie »anarcho-autonome Bewegung« sonst haben),
die aktive Ausübung politischer Freiheiten, die Äußerung radikalen
Gedankenguts sind also Grund genug, um die Anti-Terror-Abteilung
der Polizei
, die Sous direction antiterroriste de la police (SDAT) und
das Zentralbüro des Nachrichtendienstes, die Direction centrale du
renseignement intérieur
(DCRI) in Bewegung zu setzen. Nun wird
jedoch jeder, der ein Mindestmaß an politischem Bewusstsein besitzt,
angesichts der Einschränkung der demokratischen Rechte durch die
Edvige-Datei, der biometrischen Dispositive und der Verschärfung
der Einwanderungsbestimmungen die Beunruhigung dieser jungen
Leute teilen.

Nun zu den Ergebnissen: Man wird erwarten, dass die Ermittler auf
dem Bauernhof von Millevache Waffen, Sprengstoff und Molotow-
Cocktails gefunden haben. Weit gefehlt. Die Polizeibeamten der
SDAT fanden »Dokumente, die Angaben dazu enthalten, wann die
Züge die jeweilige Gemeinde passieren, und ein Verzeichnis der
Ankunfts- und Abfahrtszeiten für jeden Bahnhof«. Auf gut deutsch:
einen Fahrplan der SNCF. Darüber hinaus wurde »Klettergerät«
sichergestellt. Auf gut deutsch: eine Leiter, wie man sie in jedem
x-beliebigen Bauernhaus finden kann.

Wenden wir uns schließlich den festgenommenen Personen zu, vor
allem der Person des mutmaßlichen Chefs dieser Terrorbande, »dem
33-jährigen
Anführer, der aus einem wohlhabenden Pariser Milieu
stammt und von der Unterstützung seiner Eltern lebt«. Es handelt
sich um Julien Coupat, einen jungen Philosophen, der vor einigen
Jahren mit Freunden die Zeitschrift Tiqqun ins Leben gerufen hat,
deren politische Analysen man zwar nicht in jedem Punkt teilen muss,
die jedoch bis heute zum Intelligentesten gehören, was diese Zeit
vorzuweisen hat. Ich lernte Julien Coupat seinerzeit kennen und habe
v
om intellektuellen Standpunkt aus betrachtet vor ihm auch heute
noch die größte Hochachtung.

[...]

Sonntag, 16. November 2008

Flora Petrinsularis

 

"Die Unthätigkeit (oisiveté), welche ich liebe, ist nicht die eines Faulenzers (fainéant), der mit übereinandergeschlagnen Armen, in gänzlicher Erstarrung (inaction totale) dasitzt, und eben so wenig denkt, als er thut. Es ist zugleich die eines Kindes, das immer in Bewegung ist, ohne etwas zu beschicken (pour ne rien faire), und die eines Schwätzers (radoteur), der mit seinen Gedanken umherschweift, indeß seine Arme ruhig bleiben. Ich mag gern mich mit Kleinigkeiten beschäftigen (j'aime à m'occuper à faire des riens), hundert Dinge anfangen, und kein einziges vollführen (achever), gehn und kommen, wie mir mein Kopf die Grille eingiebt, jeden Augenblick einen andern Entwurf machen (changer de projet), eine Fliege in allen ihren Beschäftigungen verfolgen, denken, wie ich einen Felsen ausgraben wollte, um zu sehn, was darunter liegt, ein Geschäft von zehn Jahren mit Eifer anfangen (entreprendre un travail de dix ans), und es ohne Reue nach zehn Minuten wieder aufgeben (abandonner), mit Einem Worte! den ganzen Tag hindurch ohne Ordnung und ohne Folge arbeiten (muser toute la journée sans ordre et san suite), und in allen Dingen nur der Grille des Augenblicks (caprice du moment) folgen." Zu den ergiebigsten Fundstellen der Archäologie der deutschen Übersetzungen des französischen Wortes désœuvrement zählen Rousseaus Bekenntnisse, in denen es sechsmal auftaucht. Die Confessions erschienen bekanntlich erst nach Rousseaus Tod: 1782 das erste bis sechste Buch, 1788 das siebte bis zwölfte. Sie wurden umgehend ins Deutsche übertragen. Noch im selben Jahr wie die französische Ausgabe erschien der erste Teil in Berlin bei Johann Friedrich Unger. Sowohl das Startkapital für dessen Verlag als auch die Übersetzung stammten von der Frau des Verlegers: Friederike Helene Unger. Den ebenfalls von Unger verlegten zweiten Band (Berlin 1790) hatte dann Adolph Freiherr Knigge ins Deutsche übertragen. Das vorangestellte Zitat findet sich im zwölften Buch. "Die Kräuterkunde, so wie ich sie immer betrachtet habe, und so wie sie anfieng zur Leidenschaft bey mir zu werden, war gerade ein Studium von so unthätiger Art (étude oiseuse), fähig die ganze Leere meiner müßigen Stunden (le vide de mes loisirs) auszufüllen, ohne darinn Raum für die Schwärmerey der Einbildungskraft (délire de l'imagination), noch für die Langeweile eines ganz geschäftlosen Lebens (ennui d'un désœuvrement total) zu lassen. Nachläßig in Wäldern und auf Wiesen herumirren (errer nonchalamment); ohne Bedacht (machinalement) dies und jenes aufnehmen, bald eine Blume, bald einen Zweig; es dem Ungefähr überlassen, meinem Hunger nach Kenntnissen Nahrung zu verschaffen (brouter mon foin presque au hasard); tausend- und wieder tausendmal dieselben Dinge beobachten, und immer mit gleichem Interesse, weil ich sie jedesmal wieder vergaß; das war das Mittel, eine Ewigkeit hinzubringen, ohne je einen Augenblick Langeweile haben zu können."

Sonntag, 9. November 2008

Nacktheit vs. Blöße


Wer auch immer das Buch Agambens übersetzen wird, das
demnächst bei den edizioni nottetempo erscheinen soll,
sie oder er wird zunächst ein Problem lösen müssen: Wie
dessen Titel zu übersetzen sei. Der soll allem Anschein nach
nämlich Nudità lauten. Wofür soll man sich entscheiden, für
Nacktheit oder Blöße? Es ist die alte Frage
: die "dekonstruktive"
Lösung oder die "strategische"? Denn "strategisch" war die
Entscheidung für "nacktes Leben" in doppelter Hinsicht: Zum
einen sollte sie Agambens Konzept von Benjamins Prägung
(bloßes Leben) abheben, zum anderen war sie implizit gegen
die Vereinnahmung Agambens durch eine dekonstruktive
Lesart gerichtet. Wir erinnern uns:
Im Januar 2001, mehr als
ein Jahr bevor
Hubert Thürings Übersetzung des ersten Teils
von Homo sacer bei Suhrkamp erschien, brachte die Zeitschrift
Literaturen ein Gespräch, das Hanna Leitgeb und Cornelia
Vismann mit dem italienischen Philosophen in Venedig geführt
hatten. Diesem Gespräch nachgeschaltet war ein Text Anselm
Haverkamps, der "Giorgio Agambens Werk" im "größeren
philosophischen Kontext verorten" sollte.

In diesen, wie es im Untertitel heißt, "Anmerkungen zu einem
lebenswichtigen Buch" geht Haverkamp auf den Zusammenhang
von Agambens nuda vita mit Benjamins bloßem Leben erst gar
nicht ein. Vielmehr scheint er seine Entscheidung für "bloßes
Leben" aus den Worten selber ableiten zu wollen: "«Homo sacer»
sucht den politischen Sachverhalt an der rechtlichen Quelle auf,
dem Ursprung der Verwaltung «bloßen Lebens». [...] Es sind die
Substrukturen des römischen Reichs, in denen das Dasein zum
ersten Mal zu bloßem Leben wird. Agambens Verfallsgeschichte
des Daseins ist die Entblößungsgeschichte des Lebens. Denn
dessen Blöße ist keine natürliche Nacktheit, sondern wird durch
juristische Entblößung verursacht." Diese allem Anschein nach
stringente Argumentation verunsicherte mich damals ein wenig.
Denn sie rief mir in Erinnerung, dass ich mich 1998, als ich den
kurzen Aufsatz Die absolute Immanenz übersetzte, nach langem
Abwägen schließlich für die "natürliche Nacktheit" entschieden
hatte: "In der Geschichte der abendländischen Wissenschaft
stellt die Absonderung dieses nackten Lebens ein in jedem Sinn
grundlegendes Ereignis dar" (Bartleby oder die Kontingenz gefolgt
von Die absolute Immanenz
, Berlin, Merve, 1998, S. 107).

Deshalb erwartete ich das Erscheinen der deutschen Übersetzung
von Homo sacer. Il potere sovrano e la nuda vita mit besonderer
Spannung. Wie würde der Untertitel auf deutsch lauten? 2002 war
es dann endlich soweit. Ich hielt mein Exemplar in den Händen und
las nicht ohne eine gewisse Genugtuung: "Die souveräne Macht und
das nackte Leben". In den "Anmerkungen zur Übersetzung und zur
Zitierweise" wurde diese Wortwahl folgendermaßen kommentiert:
"Trotz des eindeutigen Bezugs auf Walter Benjamins bloßes Leben
wurde, nach Abwägung der Bedeutungsfelder und zur Unterstreichung
der eigenständigen Entwicklung und Prägung des Begriffs durch den
Autor, la nuda vita mit das nackte Leben übersetzt." Selbstredend
war mit diesem Kommentar der Streit um die Wahl der Worte alles
andere als entschieden. Das gerade Gegenteil war der Fall: Nun
hatten die zwei Lager, aus denen sich die ersten Agambenianer im
deutschen Sprachraum rekrutierten auch ihr Schibboleth: Welches
Attribut kommt dem Leben des homo sacer zu? (Ironischerweise
enthält diese Frage selbst das S[ch]ibboleth 'sazer'/'saker'.)

Im Frühjahr 2005 erhielt die Frage nach Nacktheit und Blöße eine
entscheidende Wendung.
Auf Einladung des Wissenschaftkollegs
hielt sich Agamben für zwei Monate in Berlin auf. Und bereits in
unserem ersten Gespräch kam Agamben darauf zu sprechen, dass
seine deutschen Freunde ein Problem mit der Übersetzung des
Homo sacer hätten, vor allem mit der Übersetzung von nuda vita.
Er fragte mich, wie ich zu dem Problem stehen würde. Gerade
war Eva Geulens Giorgio Agamben zur Einführung bei Junius
erschienen. Dort waren die Vorbehalte der "deutschen Freunde"
unter dem Zwischentitel Das nackte Leben (Aristoteles, Foucault,
Benjamin) noch einmal rekapituliert worden: "Auf die Frage, was
Gegenstand der ausschließenden Einschließung in der Ausnahme
ist, antwortet das »nackte Leben« im Untertitel seines Buches.
Das dem Recht oft als vorgängig angenommene, eigentlich aber,
so argumentiert Agamben, von ihm qua Herausnahme erst
konstituierte Phänomen ist also das bloße Leben. Das nackte
oder bloße (und entblößte) Leben ist nicht eine vorgängige
Substanz, sondern ein nach Abzug aller Formen verbleibender
Rest". So bestrickend diese Denkfigur auch sein mochte, ich
verteidigte tapfer das "nackte Leben".

Ein paar Tage später traf ich Agamben zufällig wieder: in der
Schlange der Wartenden, die zu Vanessa Beecrofts Performance
in der
Neuen Nationalgalerie wollten. Er wurde von Jennifer Allen
begleitet, die später in einem Internetmagazin von dem Abend
berichtete: "Als wir schließlich unsere Nasen gegen Mies' grandiose
Vitrine pressten, konnte Agamben seine Enttäuschung nur schlecht
verbergen: «Pantyhose. . . ma no!» Der italienische Philosoph begann
von der «vita nuda» zu sprechen und stellte mir eine Frage, die ihn
schon seit Jahrzehnten beschäftigen würde. «How do you imagine
people in the perfect world: dressed or naked?»" Auf Allans Antwort,
dass "Nackheit nur ein anderes outfit sei" soll er erwidert haben:
"For theologians, there was no nudity in paradise. Adam and Eve
discovered their nudity only after the Fall, when they covered their
genitals with fig leaves." Am nächsten Tag klingelte bei mir das
Telefon. Agamben war am Apparat. Die Veranstaltung habe ihn
dermaßen verärgert, dass er sich mit einem "kleinen Text" habe
Luft machen müssen. Wenig später öffnete ich ein Dokument mit
dem Arbeitstitel: Sulla nudità. Die Übersetzung erschien am 12.
April unter dem von der Redaktion gewählten Titel Das verlorene
paradiesische Kleid in der FAZ. Eigentlich hätte er Teologia della
nudità, also Theologie der Nacktheit oder Blöße lauten sollen.

Im Rückblick glaube ich sagen zu können, dass Theologie der Blöße
wohl die beste Wahl gewesen wäre. Denn im Zentrum des kurzen
Textes steht das Zitat eines "modernen Theologen", anhand dessen
Agamben beweisen möchte, dass Vanessa Beecroft "in rückhaltloser
Komplizenschaft mit der christlichen Theologie, mit der sie, ohne
sich dessen bewußt zu sein, völlig gesättigt war, nichts anderes
ausstellt als die Unmöglichkeit der Nacktheit". Den Namen seines
theologischen Gewährsmanns gibt Agamben jedoch im Text nicht
preis. Mittlerweile dürfte dessen Identität ein offenes Geheimnis
sein. Bei dem Zitat handelt sich um eine Stelle aus Erik Petersons
Artikel
Theologie des Kleides, der 1934 in der Benediktinischen
Monatschrift
erschien. Liest man diesen "kurzen Text" ganz, kann
man gar nicht übersehen, dass Agamben in seiner "Besprechung"
der Per
formance einen versteckten Kommentar zum Streit um
nacktes vs. bloßes Leben gibt. Im Licht der Ausführungen des
Theologen Peterson erhalten die Argumente Haverkamps und
Geulens nämlich einen besonderen Glanz:

"Von einer Nacktheit des Körpers zu sprechen, die sichtbar
geworden ist, weil einem »die Augen aufgetan« worden sind,
hat aber nur unter der Annahme einer vorausgegangenen
Entkleidung einen Sinn. Erst die Entblößung des Leibes führt
zu der Wahrnehmung des nackten Körpers, und so mußte
denn auch zuerst die »Entblößung« des Leibes des ersten
Menschen eingetreten sein, ehe sie sich der »Nacktheit«
ihres Körpers bewußt werden konnten. Diese »Aufdeckung«
des Leibes, die die »nackte Körperlichkeit« sichtbar werden
läßt, diese schonungslose Entblößung des Leibes mit allen
Kennzeichen seiner Geschlechtlichkeit, die als Folge der
ersten Sünde für die jetzt »aufgetanen Augen« sichtbar wird,
läßt sich nur unter der Annahme begreifen, daß vor dem
Sündenfall »bedeckt« war, was jetzt »aufgedeckt« wird, daß
vorher verhüllt und bekleidet war, was jetzt enthüllt und
entkleidet wird."

Vor diesem Hintergrund wird man wohl vermuten dürfen, dass
die "politischen Überlegungen", die den FAZ-Artikel beschließen,
nicht nur gegen die von Beecroft betriebene "Komplizenschaft
von Ware und Theologie" gerichtet waren, sondern auch auf
die theologischen Bestände dekonstruktiven Denkens zielte:
"Was wir wiederfinden müssen, ist Adams Nacktheit, bevor Gott
ihm das Glorienkleid überstreifte. Jedoch weder als verlorenen
Naturzustand noch als Verheißung eines kommenden, sondern
als etwas, das wir hier und heute Stück für Stück von dem
theologischen Gewebe befreien müssen, das es umhüllt."

Donnerstag, 30. Oktober 2008

Philosophie der Übersetzung


Wie wir sahen ist der Titel des ersten Buches von Giorgio
Agamben (Mailand, Rizzoli, 1970) die Übersetzung eines
Syntagmas, das Gottfried Benn in seinem Nietzsche-Essay
von 1950 verwendet hatte. Zumindest legt dies ein kurzer
Aufsatz des italienischen Philosophen nahe, der vier Jahre
vor der Veröffentlichung seines Erstlingswerks im November
1966 in der Zeitschrift Tempo presente erschienen war (vgl.
Der Schacht von Babel vom 18. September 2008).
Stellt man
in Rechnung, dass auch der Titel dieses Artikels (Il pozzo di
Babele
) eine Übersetzung ist (nämlich von Kafkas "Schacht
von Babel"), schöpft man den Verdacht, Agamben habe den
Walter Benjamin unterstellten Wunsch, ein Buch zu schreiben,
das nur aus Zitaten besteht, von Beginn an in die Tat umgesetzt.
Dass sich dieser Verdacht bereits auf den ersten Seiten von Der
Mensch ohne Inhalt
erhärtet, mag den sogenannten belesenen
Leser erfreuen. Dem Übersetzer wird dieses Verfahren hingegen
zum Problem. Will er die versteckten Zitate nicht rückübersetzen,
muss er entweder der belesenste aller Leser oder der virtuoseste
aller Suchmaschinenbenutzer sein, oder beides.


Schlägt man Agambens erstes Buch auf, das Giovanni Urbani, dem
Restaurator und nachmaligen Direktor des Istituto Centrale per il
Restauro in Rom "als Zeichen der Freundschaft und Dankbarkeit"
gewidmet ist, blickt man zunächst auf die Überschrift des ersten
Kapitels: La cosa più inquietante. Wie soll man sie übersetzen?
Als "Das Beunruhigendste" oder "Das Beängstigendste"? Wohl nur
mit einem gewissen Unbehagen. Glücklicherweise gibt der Autor
in diesem Fall recht eindeutige Hinweise. Denn Agamben benutzt
den Superlativ "più inquietante" auf den folgenden Seiten zweimal:
im ersten Kapitel in der Übersetzung einer Stelle des ersten Chors
der Antigone des Sophokles und ein weiteres Mal im dritten Kapitel
in einer durch Anführungszeichen als Zitat ausgewiesenen Wortfolge
(quel "più inquietante di tutti gli ospiti" che è il Nihilismo europeo).
Kennt man sich etwas mit Heidegger und Nietzsche aus, weiß man,
welche Stellen Agamben hier übersetzt: Nietzsches "unheimlichsten
aller Gäste" und Heideggers Interpretation der Antigone-Stelle ("Der
Mensch ist mit einem Wort to deinotaton, das Unheimlichste").


Donnerstag, 16. Oktober 2008

Schlucht


Oktober 2001 kam Rainald am Merve-Stand vorbei und ließ
sich mit Heidi Paris und dem Jahrzehnt der schönen Frauen,
seinem apokryphen Heute-Morgen-Annex (5.7) ablichten. Das
ist nun genau sieben Jahre her. Dann ergriff Goetz vier lange
Jahre nicht mehr öffentlich das Wort. Im Oktober 2005 ging
es langsam wieder los. Als Gast der Ö1-Radiosendung Von Tag
zu Tag
sagte er: "Als Schriftmann will ich hier vor allem Fragen
stellen, zum Beispiel: Institutionenkunde, Architektur, Körper
im Raum, physiognomische Betrachtungen... Untersuchungen
am lebenden Objekt, vorwiegend während es spricht... auch
während es zuhört...".

Kurz zuvor war in Cicero die rätselhafte Houellebecq-Rezension
"Das Elend der Liebe" erschienen, die angenehm entmutigend
vor dem "Berliner Kaufhaus Lafayette" ausklingt: "Draußen ist
es inzwischen fast schon dunkel geworden. Der Herbst kommt.
Eine kleine asiatische Frau wird in Handschellen, mit auf den
Rücken gefesselten Händen, von zwei Polizisten über die Straße
zum Streifenwagen geführt. Sie hat ihr Gesicht nach hinten
gedreht, fragend. Der Freie darf sein Rad aufsperren, er setzt
sich darauf und radelt los. So radelte er hin."

Tschüss Büchner! Lenz hat jetzt ein Fahrrad, mit dem er dann
ab Februar 2007 zu VANITY geradelt sein wird, um als Schrift-
mann den Schriftmenschen schreibend beizustehn. Seit Juni
diesen Jahres fehlt uns bekanntlich dieser Beistand. Dafür liegt
klage jetzt als Buch vor. Der Winter ist gerettet. Während sich
das Biedermeier-Feuilleton bei Dresdner Christstollen an Uwe
Tellkamps Turm wärmt,
beugen sich die Schriftmenschen über
die ersten 450 Seiten Schlucht und verzeichnen am Rand die
Varianten aus den von ihnen gespeicherten Posts. Mit etwas
Glück könnte eine kritische Ausgabe von klage vorliegen, ehe
Buch 6 abgeschlossen ist.

DER NEUZEITLICHE MENSCH
steht in der Irre

Donnerstag, 9. Oktober 2008

Presentimenti


Vgl. A Bachelor's Drawer vom 22. Juni 2008.

Mitte Juni 2008, New Yorks früheste Hitzewelle ging gerade
mit Rekordwerten ihrem Ende entgegen.
Folge der extremen
Temperaturen: die Leute in Manhatten waren alle bisschen
nachlässiger gekleidet.
Socken bekam man nur selten zu sehen,
dafür Shorts, kurzärmlige Hemden, Asiaschlappen so weit das
Auge reichte. Schöner Nebeneffekt der drückenden Hitze:
die
Empfänglichkeit für das, was um einen herum vorging, wuchs.
Weniger schön:
ein Text, der nicht rechtzeitig fertig geworden
war, mußte in versendbare Form gebracht werden (In Wahrheit
war ich/Nie verreist/Wie das
Protokoll/Beweist). Als er dann
die Bleibe in Chelsea verlassen hatte, fiel ein Stein vom Herzen.
Endlich ging es ins Offene - manchmal auch ins Museum.

Donnerstag, 2. Oktober 2008

Zitierfreude


Januar 94 feierte Heiner Müller seinen 65. Geburtstag mit einem
Pasoliniabend im Berliner Ensemble. Auf dem Programm standen
La Ricotta, der Beitrag des italienischen Regisseurs zu RoGoPaG,
einer Kurzfilmanthologie von 1963, und die Lesung einer Auswahl
aus seinen Gedichten.
Laura Betti, die in Pasolinis Film eine der
"Diven" spielt, war eingeflogen worden, um sie hingebungsvoll zu
rezitieren. Auf seine unnachahmliche Art
, in einer Mischung aus
Nuscheln und Bellen
, trug Müller deren deutsche Übersetzung vor.
Ob auch Io sono una forza del Passato / Solo nella tradizione è il
mio
amore... ("Ich bin eine Kraft der Vergangenheit / Einzig der
Überlieferung gilt meine Liebe") dabei war, also jenes Gedicht,
das Orson Welles in der Rolle eines Regisseurs scheinbar vorträgt
(gesprochen wird der Text von Giorgio Bassani), habe ich vergessen.
Ehrlich gesagt, konnte ich mich gar nicht mehr daran erinnern, daß
Gedichte von Pasolini vorgetragen wurden. Es war der wunderliche
Kurzfilm, der mir im Gedächtnis blieb.


RoGoPaG stand für die vier Regessieure, die an dem Episodenfilm
beteiligt waren: Rossellini, Godard, Pasolini und Gregoretti. Sein
alternativer Titel lautet: Laviamoci il cervello, "Waschen wir uns
das Gehirn!" Bevor mit Rossellinis Illibatezza (Jungfräulichkeit,
Keuschheit, Unversehrtheit), einem Capriccio über Stewardessen,
Fernreisen und Super8
die erste Episode beginnt, erklärt ein Text:
"Vier Erzählungen von vier Autoren, die sich darauf beschränken,
von den heiteren Vorboten des Weltuntergangs zu berichten."

Die Gedichte von "Mamma Roma", Gedicht vom 13. Mai 1962:
Il popolo più analfabeta / e la borghesia più ignorante del mondo.
10. Juni 1962:
Io sono una forza del Passato.
Solo nella tradizione è il mio amore.
Vengo dai ruderi, dalle Chiese,
dalle pale d’altare, dai borghi
dimenticati sugli Appennini o le Prealpi,
dove sono vissuti i fratelli.
Giro per la Tuscolana come un pazzo,
per l’Appia come un cane senza padrone.
O guardo i crepuscoli, le mattine
su Roma, sulla Ciociaria, sul mondo,
come i primi atti della Dopostoria,
cui io assisto, per privilegio d’anagrafe,
dall’orlo estremo di qualche età
sepolta. Mostruoso è chi è nato
dalle viscere di una donna morta.
E io, feto adulto, mi aggiro
più moderno d'ogni moderno
a cercare i fratelli che non sono più.


Donnerstag, 25. September 2008

commentator


An entlegener Stelle, namentlich als Vorwort zu einem Buch
Emanuele Coccias, des letzten Averroisten, kommentiert Giorgio
Agamben die schöne Bonaventurastelle von den vier Arten, ein
Buch zu machen. Wir erinnern uns: "... quadruplex est modus
faciendi librum
. Wer Fremdes schreibt, ohne etwas hinzuzufügen,
ist ein Schreiber (scriptor). Wer Fremdes schreibt und etwas
hinzufügt, das nicht von ihm selbst stammt, ist ein Kompilator
(compilator). Wer hauptsächlich Fremdes schreibt und Eigenes
zur Erklärung hinzufügt, heißt Kommentator (commentator). Wer
Eigenes und Fremdes schreibt, wobei das Eigene die Hauptsache
ist und das Fremde zur Bekräftigung hinzugefügt wird, ist ein Autor
(auctor)."

Donnerstag, 18. September 2008

Der Schacht von Babel


Als die Einstürzenden Neubauten 1996 ihren Schacht von Babel
gruben, mit edlen Hölzern verschalten und selbst den Strom für
das Licht drin verlegten, war es genau dreißig Jahre her, dass
Giorgio Agamben seinen gegraben hatte: in Form eines Artikels
für die Zeitschrift Tempo Presente. In dieser Zeitschrift, die wie
Der Monat in Deutschland, Preuves in Frankreich oder Encounter
in Großbritannien vom 1950 im Titania-Palast in Berlin-Steglitz
gegründeten Kongress für kulturelle Freiheit mit CIA-Geldern
subventioniert wurde, waren 1966 von dem, wie es in der Rubrik
"Anmerkungen zu den Mitarbeitern dieses Hefts" heißt, "jungen
Forscher auf dem Gebiet der französischen Literatur", der schon
Artikel in Il Mondo veröffentlicht habe und hoffe, in Kürze seine
"Baudelaire-Studie" abschließen zu können, drei in inhaltlichem
Zusammenhang stehende Beiträge erschienen: "Der 121. Tag von
Sodom und Gomorrha", "Fabel und Fatum" und "Der Schacht von
Babel".

Agambens Werk hätte sich selbstredend auch ohne diese suspekte
Anschubfinanzierung irgendwie Bahn gebrochen, dem
Übersetzer
und
Exegeten beantwortet die so entstandene Artikelserie jedoch
einige Fragen, die sich im Zusammenhang mit dem ersten Buch des
italienischen Künstler-Philosophen stellen. Zunächst drängt sich die
Frage auf, wie der Titel des 1970 erschienenen Buches angemessen
zu übersetzen wäre: L'uomo senza contenuto. Soll man ihn Wort für
Wort übersetzen? Der Mensch ohne Inhalt? Die Frage der Richtigkeit
oder Angemessenheit einer Übersetzung, die in der Regel lediglich
eine Geschmacksfrage ist, kann in diesem Fall unmissverständlich
beantwortet werden. In Il pozzo di Babele (Der Schacht von Babel)
findet sich nämlich eine Stelle, die den entscheidenden Hinweis gibt:


"Was mit [Artaud] untergeht, ist der Feder-Mensch (l'uomo-penna), der
vierte Mensch, von dem Benn in seinem Essay über Nietzsche spricht,
der Mensch, der seinen Inhalt verloren hat (l'uomo che ha perduto il
suo contenuto
) und nur noch den Form- und Ausdrucksprinzipien lebt."

In Benns Radio-Essay Nietzsche – nach fünfzig Jahren, der am 25. Aug.
1950 vom Nordwestdeutschen Rundfunk gesendet wurde,
steht die von
Agamben übersetzte Passage in folgendem Kontext:

"Nietzsche, sehen wir heute, inaugurierte den »vierten Menschen«,
von dem man jetzt so viel spricht, den Menschen mit dem »Verlust
der Mitte« [...]. Der Mensch ohne moralischen und philosophischen
Inhalt, der den Form- und Ausdrucksprinzipien lebt. Es ist ein Irrtum,
anzunehmen, der Mensch habe noch einen Inhalt oder müsse einen
haben. Der Mensch hat Nahrungssorgen, Familiensorgen, Fortkommen-
sorgen, Ehrgeiz, Neurosen, aber das ist kein Inhalt im metaphysischen
Sinne mehr. [...]
Der beschwörende Mensch ist nicht mehr da. Es ist
überhaupt kein Mensch mehr da, nur noch seine Symptome."

An dieser Stelle entfaltet Benn allerdings nur eine Diagnose, die er
kurz zuvor auf die konzisere Formel gebracht hatte, Nietzsche sei
"»der vierte Mensch«, von dem man jetzt soviel spricht, der Mensch
ohne Inhalt, der die Grundlagen der Ausdruckswelt schuf." Dieser, aus
philologischer Sicht sehr schöne Befund ("der Mensch ohne Inhalt"),
wirft nun aber grundsätzlichere Fragen auf. Ist es überhaupt statthaft,
den Titel von Agambens erstem Buch, mit dem Hinweis, es handle
sich um die Übersetzung eines Bennschen Syntagmas, nicht eigentlich
zu übersetzen, sondern rückzuübertragen? Ist das nicht Verrat an der
Aufgabe des Übersetzers? Hat sich nicht die Entscheidung, Agambens
Prägung "nuda vita" - trotz der nicht zu
übersehenden Bezugnahme auf
Walter Benjamins "bloßes Leben" – mit "nacktes Leben" zu übersetzen,
als richtig erwiesen? Doch wäre es ein Gewinn, wenn man
Il pozzo di
Babele –
anstatt ihn in Kafkas Schacht von Babel rückzuübertragen –
mit Babylons
Brunnen oder Die babylonische Höhle übersetzen würde?


Donnerstag, 11. September 2008

Pet Obedience School


"Der Kirchenlehrer Hieronymus [...] war in alle dogmatischen
Händel um die Wende zum 5. Jahrhundert verwickelt. Obwohl
er Rhetorik studiert hatte, zog ihn sein asketischer Eifer immer
wieder in die Wüste zu längerem Schweigen. Allerdings kehrte
er regelmäßig mit Geschriebenem in großer Menge zurück. Diese
Besonderheit seiner asketischen Strenge hat ihre Bildhaftigkeit
in der Konfiguration des »Hieronymus im Gehäus« gefunden: der
schreibende Eremit mit dem Wüstenlöwen als von Frömmigkeit
angestecktem Haustier." Mit diesen Worten beginnt ein kurzer
Kommentar Hans Blumenbergs zu einer Stelle bei Ernst Jünger.
Im Sanduhrbuch hatte der einmal
, Dürers Kupferstich vor Augen,
die rhetorische Frage gestellt: "Wer möchte nicht teilhaben an
dieser Stille, inmitten der warmen hölzernen Täfelung, während
[...] vor dem Pult ein Löwe träumt, den man sich auch durch eine
Katze ersetzen kann?"


Blumenberg hatte sich über "die Harmlosigkeit des Löwen auf
Tafeln und Holzschnitten" schon immer geärgert. Dass Jünger
nun den Löwen durch einen "angeheimelten Feliden" ersetzt,
geht ihm jedoch entschieden zu weit. Ein gezähmtes Raubtier,
das die "Eremitagewache übernahm, damit der Theologe nicht
von Raubzeug gestört werde", würde Blumenberg ja noch gelten
lassen, doch eine Katze in der Studierstube, das riecht ihm zu
sehr nach "bürgerlicher Idylle". Eine genauere Betrachtung von
Antonello da Messinas Hieronymus, dessen Arbeitsplatz man nur
schwerlich als "bürgerliche Idylle" bezeichnen wird, zeigt aber,
dass auch
in vorbürgerlichen Zeiten das nutzlose Haustier bei
Gelehrten durchaus im Trend lag: zwar geistert der Wüstenlöwe
noch durch das Kirchenschiff, der Zugang zum Lese-Gestell bleibt
jedoch "angeheimelten Feliden" vorbehalten (siehe oben; für den
Löwen vgl. Was ist ein Gehäus? vom 13. August 2008).

PS. Besonders rätselhaft ist Blumenbergs Deutung des von Dürer
"neben den schlafenden Löwen gelegten ebenso schlafenden Haus-
hündchens". Daß der Erfinder der Metaphorologie dieses Hündchen
nicht, wie es mit Blick auf den Übersetzer Hieronymus nahe läge,
als Symbol der Treue interpretiert, sondern als unverzichtbaren
Bestandteil "einer bürgerlichen Idylle", ist nur schwer nachzuvoll-
ziehen. Selbst das gefügige Hündchen, das Carpaccio in die Zelle
des Augustinus setzt, hat ja mit "Bürgerlichkeit"
nichts zu tun. Es
repräsentiert vielmehr als nutzloses Haustier nichts anderes als
bedingungslose Regierbarkeit, ohne die es keine oikonomia Gottes
geben könnte.



Donnerstag, 4. September 2008

Philosophes et voyous


"Les voyous vont disparaître, die Voyous werden verschwinden"
hatte der damalige Innenminister Nicolas Sarkozy Mitte Juni
2005 vor laufender Kamera erklärt. In der Nacht zum achten
November desselben Jahres rief er den Ausnahmezustand aus.
Auf Grundlage des Notstandsgesetzes von 1955 konnten nun
Ausgangssperren in den betroffenen Vorstädten angeordnet
werden. Auch Derridas Dekonstruktion
(Voyous, Paris 2003)
des strategischen Begriffs état voyou (das heißt der offiziellen
französischen Übersetzung des amerikanischen Kampfbegriffs
rogue state
, Schurkenstaat) hatte daran nichts ändern können.

Angesichts der Entwicklung, die das gerade einmal 180 Jahre
alte Wort voyou in den letzten Jahren genommen hat, stellt sich
die Frage, was Queneau
dazu bewogen haben mag, es mit einem
der ehrwürdigsten Worte des Abendlands
zusammenzustellen.

Mittwoch, 27. August 2008

Der Berater-Philosoph


Aus gegebenem Anlass blätterte ich wieder einmal in dem
1963 in der von W. Hennis und R. Schnur herausgegebenen
Reihe "Politica" erschienenen Buch, das Texte von Xenophon,
Leo Strauss und Alexandre Kojève enthält und den Titel Über
Tyrannis
trägt. In
Kojèves Beitrag (Tyrannis und Weisheit),
findet sich eine Passage, die aus zweierlei Gründen meine
Aufmerksamkeit weckte:

"Der Weise, sagt [Strauss], »begnügt sich mit der Billigung
durch eine kleine Minorität«. […] Daher wird der Philosoph
seine Zuflucht zum esoterischen (vorwiegend mündlichen)
Unterricht nehmen, der ihm unter anderem erlaubt, die
»Besten« auszuwählen und den »Beschränkten« auszumerzen,
der nicht fähig ist, die versteckten Anspielungen und die
stillschweigend einbegriffenen Nebengedanken zu verstehen.
Ich muß gestehen, daß ich mich hier von Strauss und der
antiken Tradition entferne […]. Ich glaube nämlich, daß Idee
und Praxis der »intellektuellen Elite« eine sehr ernste Gefahr
einschließen, die der Philosoph als solcher um jeden Preis zu
vermeiden suchen müßte.
Die Gefahr, der sich die Bewohner der diversen »Gärten«,
»Akademien« […] und »Gelehrtenrepubliken« aussetzen,
stammt aus dem sogenannten »Cliquengeist«. Gewiß ist der
»Kreis« eine Gesellschaft und schließt den Wahnsinn aus, der
seinem Wesen nach asozial ist. Statt aber die Vorurteile
auszuschließen, strebt er dagegen danach, sie zu kultivieren
und zu züchten. […] Jede in sich geschlossene Gesellschaft,
die eine Doktrin übernimmt, jede zum Zweck des Lehrens
einer Doktrin ausgewählte »Elite« neigt dazu, die Vorurteile,
welche diese Doktrin mit sich führt, zu untermauern. Der
Philosoph, der die Vorurteile flieht, müßte also eher versuchen,
in der großen Welt zu leben (auf dem »Forum« oder »auf der
Straße« wie Sokrates) als in einem »Kreis«, gleichviel ob er
»republikanisch« oder »aristokratisch« wäre."

Zunächst sind
die Vorbehalte, die Kojève hier gegen den elitären
"Berater-Philosophen" (conseiller-philosophe) anmeldet, insofern
von Interesse, als sie sich hervorragend dazu eignen, seine Haltung
zum Problem
von Esoterik und Exoterik zu verdeutlichen. Gewiss
werden sie im Vor- oder Nachwort zum Merve-Büchlein Kunst des
Schreibens Erwähnung finden. Was jedoch meine Aufmerksamkeit
auf diese Stelle lenkte, war eine
jener von Kojève gerne strategisch
eingesetzten
Fußnoten (Vgl. die Fußnote zum Ende der Geschichte
in der Introduction à la lecture de Hegel, die ihrerseits durch eine
Note de la Seconde Édition relativiert wird, in : Überlebensformen,
Berlin 2007, S. 41-48). Und auch diesmal verweist die Fußnote auf
Kojèves Lieblingsthema: "Queneau erinnert in den »Temps modernes«
daran, daß der Philosoph wesentlich ein »Taugenichts« ist".
Bei dem
Wort Taugenichts, zumal wenn es zwischen Anführungszeichen steht,
nicht
hellhörig zu werden, fällt schwer; man konsultiert den Text des
französischen
Originals und liest: "le philosophe est essentiellement
un «voyou»."

Wenn Kojève
1954 darauf hinweist, dass es das Verdienst Raymond
Queneaus ist, uns an das wesentliche «voyou»-Sein des Philosophen

erinnert zu haben, stellt sich die Frage, ob Kojèves Figur des voyou
desœuvré
, die im Mai des Jahres 1952 in einer Queneau-Kritik das
Licht der Welt erblickte (Vgl. Überlebensformen, op. cit., S. 7-26)
und
für Giorgio Agambens Begriff der Inoperosität (inoperosità), der
Untätigkeit oder besser Untüchtigkeit von grundlegender Bedeutung
ist
(vgl. Désœuvrement vom 6. August 2008), nicht vielleicht eine
Filiation hat, die bislang übersehen, zumindest jedoch nicht weiter
verfolgt wurde.
Denn tatsächlich gibt es einen Artikel von Raymond
Queneau, der den Titel
"Philosophes et voyou" trägt und bereits im
Januar 1951
in Les Temps modernes erschienen war. Nun wird klar,
dass Kojève den "Begriff" voyou nicht deshalb in Anführungszeichen
setzt ("ces «voyous» désœuvrés"), um seinen Vorbehalten gegen das
noch sehr junge Wort (1831) mit unsicherer Etymologie Ausdruck zu
verleihen, sondern um darauf hinzuweisen, dass es schon von jemand
anderem in einem ähnlichen Zusammenhang verwendet wurde.

Mittwoch, 20. August 2008

San Giorgio degli Schiavoni


Als ich vor gut einem Jahr einen Freund in Venedig besuchte,
bürgerte sich alsbald eine rigide Tagesordnung ein, die vorsah,
dass ich nach einem gemeinsamen Kaffee
gewisse, von meinem
Freund ausgewählte Orte im Labyrinth der Gassen aufzusuchen
und sorgfältig zu untersuchen hatte. So konnte er
den Vormittag
über ungestört arbeiten.
Während des gemeinsamen Mittagessens
zählte ich jene Momente auf, die mich auf meinen Exkursionen
am tiefsten beeindruckt hatten. Jeden Mittag aufs Neue verfiel
ich in eine
Orgie detaillierter Affirmation, die beweisen sollte,
dass ich die mir gestellte Aufgabe gewissenhaft erfüllt habe. Eines
schönen Vormittags ging es nach Castello. Zuerst stattete ich Santi
Giovanni
e Paolo einen Besuch ab, dann verharrte ich, Bartolomeo
Colleoni im Rücken, staunend vor der Fassade der Scuola Grande
di San Marco
, die schon seit langem ospedale civile, öffentliches
Krankenhaus ist. Doch das eigentliche Ziel der Tagesreise lag noch
vor mir:
die Scuola di San Giorgio degli Schiavoni, die einst der
"slawonischen" Bruderschaft als Versammlungsort diente.

Wenn man sie endlich gefunden hat, versteht man, warum sie
nicht zu den Scuole Grandi gezählt wird. Erst wenn man eintritt
und sich die Augen langsam an die Dunkelheit gewöhnt haben,
begreift man, wo man sich befindet: in Carpaccios Welt. Den
haben die Dalmatiner nämlich Anfang des 16. Jahrhunderts dazu
überreden können, ihren bescheidenen Betsaal auszumalen. Sie
wünschten sich Szenen aus dem Leben ihrer Lieblingsheiligen.
Neben Georg war dies Hieronymus, da er aus Dalmatien stammte.
(
Dass man heute bei dem Wort Dalmatiner an eine spektakuläre
Hunderasse denkt und nicht an den Kirchenvater, kann insofern
als
Ironie der Geschichte verbucht werden, als sich Hieronymus
in seiner Funktion als Fundamentalist und Hassprediger einmal
dazu hinreißen ließ, Kaiser Julian postum als einen rabidus canis,
einen "tollen Hund"
[Ep. LXX] zu beschimpfen.)

Mittwoch, 13. August 2008

Was ist ein Gehäus?


Nachdem man es zunächst für einen Dürer oder Van Eyck hielt,
wird dieses Bild der National Gallery in London seit dem späten
19. Jahrhundert einhellig Antonello da Messina zugeschrieben.
Schon 1529 erwähnt Marcantonio Michiel, der das Bildchen des
hl. Hieronymus ("der in seinem Studiermöbel im Kardinalshabit

liest [el quadretto del S. Ieronimo che nel studio legge in abito
Cardinalesco]")
im Haus Antonio Pasqualinos sah, dass "manche
glauben, es sei von Antonello da Messinas Hand (alcuni credono
el sia di mano de Antonelo de Messina
)". Die Kurzbeschreibung
Michiels weiter verdichtend, hat sich im Italienischen der Titel
San Gerolamo nello studio
eingebürgert, der als St Jerome in
his Study
ins Englische übersetzt wurde.

tabernaculum, das zu einer taberna Eingerichtete, I) im allg.,
eine Hütte, Baracke, ein Zelt, Cic.: qui in una philosophia quasi
tabernaculum vitae suae collocarunt
, Cic. de or. 3, 77. II) insbes.,
in der Religionssprache, der von dem Augur vor Abhaltung der
Komitien außerhalb der Stadt zur Beobachtung der Auspicien
eingenommene Standort, das Tabernakel, die Schauhütte, capere
tabernaculum
, das T. einnehmen, wählen, recte, recht, nach
Ritualvorschrift, vitio, nicht gehörig.

Mittwoch, 6. August 2008

Désœuvrement


Schlägt man das Wort désœuvrement in einem gewöhnlichen,
halbwegs aktuellen Schulwörterbuch nach, findet man in der
Regel folgenden Eintrag:
"Untätigkeit, Nichtstun, Müßiggang".
Man stutzt. Heißt "Müßiggang" auf französisch nicht eigentlich
oisiveté. Man blättert weiter und findet dieselben deutschen
Entsprechungen wie bei désœuvrement, nur die Reihenfolge
ist eine andere: "Müßiggang, Untätigkeit, Nichtstun".


In Blanchots Werk taucht das Wort désœuvrement erstmals
1952 auf. Unter dem Titel "Mallarmé et l'éxperience littéraire"
war im Juli-Heft der Zeitschrift Critique die Rezension eines
Buches von Georges Poulet zu Raum und Zeit bei Mallarmé
erschienen, in der es heißt: "l'œuvre ne serait jamais œuvre
d'art si la recherche de son origine ne la mettait à l'épreuve
du désœuvrement de l'être...". Kunstwerk ist ein Werk erst
dann, wenn es sich auf der Suche nach seinem Ursprung am
désœuvrement des Seins erprobt hat. Ebenfalls in Critique
erscheint im November desselben Jahres die Buchbesprechung
"La mort possible",
"Der mögliche Tod". Désœuvrement dient
hier neben "der Flucht" zur näheren Charakterisierung einer
spezifischen Form von "Nachlässigkeit" (
"cette négligence,
fuite et désœuvrement perpétuels"). Die früheste Erwähnung
des Wortes, die ins Deutsche übertragen wurde, stammt aus
einem dritten Essay. Er erschien Januar 1953 in der ersten
Nummer der Nouvelle Nouvelle Revue Française unter dem
Titel "La solitude essentielle". 1959 wurde die "autorisierte
Übersetzung"
von Gerd Henninger des für L'espace littéraire
(1955) überarbeiteten Textes in der Schriftenreihe Das Neue
Lot
veröffentlicht.

"Der Schriftsteller gehört dem Werk, aber was ihm gehört, ist
nur ein Buch, eine stumme Anhäufung steriler Worte [...]. Der
Schriftsteller, der diese Leere empfindet, glaubt nur, daß das
Werk unvollendet ist, und er glaubt, daß ein wenig mehr Arbeit
und die Chance günstiger Augenblicke ihm erlauben werden,
ihm allein, es zu beenden. Er begibt sich also wieder ans Werk.
Aber was er beenden will, bleibt das Unbeendbare, verbindet
ihn einer illusorischen Arbeit. Und schließlich ignoriert ihn
das Werk, verschließt sich wieder in seine Abwesenheit, in
der unpersönlichen, anonymen Behauptung, daß es ist - und
nichts weiter. Was man durch die Bemerkung erläutert, daß
der Künstler sein Werk niemals kennt, weil er es erst in dem
Augenblick beendet, in dem er stirbt. Eine Bemerkung, die
man vielleicht umkehren muß, denn wäre der Schriftsteller
nicht tot, sobald das Werk existiert, und hat er davon nicht
manchmal ein Vorgefühl durch den Eindruck eines sehr
befremdenden Außerhalb-des-Werkes-Seins (désœuvrement)?"

"Keiner, der das Werk geschrieben hat, darf in seiner Nähe
leben und verweilen. Das Werk ist die Entscheidung, die ihn
entläßt, die ihn ausstößt, die aus ihm den Überlebenden macht,
den Außerhalb-des-Werkes-Stehenden (le désœuvré), den
Unbeschäftigten, den Kunst-losen (l'inerte), von dem die Kunst
nicht abhängt."

in L'entretien infini von 1969 "als ein Werk, in dem sich als sein
stets dezentriertes Zentrum das Nicht-am-Werk-Sein hält: das
Fehlen des Werkes." Hans-Joachim Metzger