Samstag, 31. Oktober 2020

Lila Luft

Wer auf den Fotografien von Melis und Hauswald nicht die vom Feuilleton gefeierte Vielfalt der „Ostdeutschen“ erkennen, sondern lediglich zur Kenntnis nehmen konnte, dass keine Exilanten aus antikommunistischen Diktaturen, keine vietnamesischen oder kubanischen Vertragsarbeiter, keine Studenten aus sozialistischen Bruderländern zu sehen waren, ging zur Erholung seiner des Ethnopluralismus müden Westler-Augen einfach in die Michael-Schmidt-Ausstellung im Hamburger Bahnhof.

Als ich die Ausstellung kurz vor der allgemeinen Museumsschließung besuchte, blieb jedoch nicht die Vielfalt Westberlins, sondern die Prominenz eines Motivs hängen: Mindestens fünfmal taucht die Ruine des Anhalter Bahnhofs auf, das zweitikonischste Ruinenmahnmal der Stadt. Ich dachte an den Studentenjob im Postamt 11, Fußballspiele mit Lesegruppen- und Vertragsarbeiterfreunden und die Legenden über das Saskatchewan im Excelsior-Haus. Und war nicht Celan im Winter 67 über die verschneite Brache gestapft? So jedenfalls berichtet es nicht nur Szondi in seiner Celan-Studie „Eden“, sondern – aus erster Hand – auch Marlies Janz:

In der Nacht vom 19. auf den 20. Dezember fuhren Celan, Walter Georgi und ich am Landwehrkanal entlang zum Anhalter Bahnhof; auf diese Nacht bezieht sich das dritte Berliner Gedicht Lila Luft. Den Anlaß zu dieser Fahrt hatte gegeben, daß Celan zuvor von seiner Durchreise durch Berlin 1938 erzählt hatte […]. Auf dem großen Ödplatz vor der Ruine des Anhalter Bahnhofs stapften wir durch den Schnee…

So steht es in Fußnote 214 ihres Buchs Vom Engagement absoluter Poesie. Da war er wieder, der lang gehegte Wunsch, Marlies Janz einmal darauf anzusprechen, ob sie nicht noch mehr zu berichten habe über Celans 14-tägigen Berlinaufenthalt. Doch dafür ist es nun zu spät. Bei meiner Suche nach Kontaktdaten stieß ich auf den Nachruf von Irmela von der Lühe: „Mit Bestürzung und Trauer nimmt das Institut für Deutsche und Niederländische Philologie der Freien Universität Berlin Abschied von Prof. Dr. Marlies Janz, die am 21. September 2020 verstorben ist.“