Die Technik ist gefährlich. Sie bedroht nicht nur die
Identi-
tät der Person. Sie läuft Gefahr, den Planeten zu sprengen.
Aber die
Feinde der Industriegesellschaft sind meistens
Reaktionäre. Sie vergessen oder
verabscheuen die großen
Hoffnungen unserer Zeit. Denn noch nie war der Glaube
an
die Befreiung des Menschen […] stärker. Er beruht nicht auf
den Erleichterungen, die die Maschinen und die neuen Ener-
giequellen dem kindlichen
Geschwindigkeitstrieb bieten; er
beruht nicht auf dem schönen mechanischen
Spielzeug, das
die ewige Kindlichkeit der Erwachsenen in Versuchung führt.
Er hängt nur mit der Erschütterung der sesshaften Zivilisatio-
nen zusammen, mit dem
Abbröckeln der lastenden Schwere
der Vergangenheit, mit dem Verblassen des
Lokalkolorits, mit
den Rissen, die alle diesen sperrigen und beschränkten Dinge
bekommen, an die sich die menschlichen Partikularismen an-
lehnen. Man muss
unterentwickelt sein, um sie als Daseins-
gründe zu beanspruchen und in ihrem
Namen um einen Platz
in der modernen Welt zu kämpfen. Die Entwickung der
Tech-
nik ist nicht die Ursache – sie ist bereits die Wirkung dieser
Entleerung
der menschlichen Substanz, die sich ihrer nächt-
lichen Schwere entledigt.
Ich denke an eine einflussreiche Strömung des modernen
Den-
kens, die in Deutschland entstand und die heidnischen Schlupf-
winkel unserer
abendländischen Seele überschwemmt. Ich den-
ke an Heidegger und die
Heideggerianer. Man möchte, dass der
Mensch die Welt wiederfinde. Die Menschen
hätten die Welt
verloren. Sie kennen angeblich nur die vor sie gestellte, in
ge-
wisser Weise ihrer Freiheit entgegenstehende Materie, sie ken-
nen nur
Gegenstände.
Die Welt wiederfinden heißt eine auf geheimnisvolle Weise in
einem Ort zusammengekauerte Kindheit wiederfinden, sich
dem Licht der großen
Landschaften, der Faszination der Natur,
den majestätisch hingelagerten Bergen
öffnen; es heißt einen
Pfad benutzen, der sich durch die Felder schlängelt; es
heißt
die Einheit spüren, das Helldunkel der Wälder, das Geheimnis
der Dinge, eines Krugs, der abgetretenen Schuhe einer Bäuerin,
das Funkeln einer
Weinkaraffe auf einem weißen Tischtuch. Das
Sein des Realen selbst würde sich
hinter diesen priviligierten
Erfahrungen zeigen, sich der Obhut des Menschen
anvertrauend.
[…] Da haben wir sie also, die ewige Verführung des Heidentums,
jenseits der Infantilität des seit langem überwundenen Götzen-
diensts. Das
Heilige, das durch die Welt hindurchscheint […].
Das Geheimnis der Dinge ist
die Quelle jeder Grausamkeit gegen
den Menschen. Das Eingepflanztsein in eine Landschaft, die Ver-
bundenheit
mit dem Ort, ohne den das Universum bedeutungs-
los würde und kaum existierte — eben dies ist die Spaltung der
Menschheit in Einheimische und Fremde. Und in
dieser Perspek-
tive ist die Technik weniger gefährlich als die Geister des Orts.
Die Technik beseitigt das Privileg dieser Verwurzelung und
des
Exils, das sich darauf beruft. Sie befreit von dieser Alternative.
Es geht nicht darum, zum Nomadentum zurückzukehren, das
ebenso unfähig ist wie das
sesshafte Leben, einer Landschaft
und einem Klima zu entrinnen. Die Technik
entreißt uns dieser
Heidegger’schen Welt und dem Aberglauben des Orts. Von nun
an zeigt sich eine Chance: die Menschen außerhalb der Situation
wahrzunehmen,
in der sie sich vorübergehend aufhalten, das
menschliche Antlitz in seiner
Nacktheit aufleuchten zu lassen.
Sokrates zog der Landschaft und den Bäumen die
Stadt vor, wo
man den Menschen begegnet. Das Judentum ist ein Bruder der
sokratischen Botschaft.
Bewundernswert
an Gagarins Großtat ist gewiss nicht seine gran-
diose Nummer im Lunapark, die
die Massen beeindruckt; nicht die
sportliche Leistung, die anderen zu
überflügeln, alle Höhen- und
Geschwindigkeitsrekorde zu brechen. […] Was
vielleicht mehr als
alles andere zählt, ist die Tatsache, den Ort verlassen zu
haben.
Eine Stunde hat ein Mensch außerhalb jedes Horizonts existiert —
alles
um ihn herum war Himmel, oder genauer, alles war geome-
trischer Raum. Ein Mensch existiert im Absoluten des homogenen
Raums.
Emmanuel Lévinas, „Heidegger, Gagarine et nous“,
in: Information
juive, Nr. 131,
Juni-Juli 1961, a. d. Franz. v. Eva Moldenhauer.