HALLELUJA! Kaum zu glauben, dass sich zur Einstimmung aufs HEILIGE
Jahr der BARMHERZIGKEIT, das am 8. Dezem- ber 2015, dem Fest der Unbefleckten
Empfängnis Mariens, an dem sich das Ende des 2. Vatikanischen Konzils zum 50. Mal jährt, der Geist ausgerechnet in Deutschlandhinein er- gießt. Der
Berliner Romantiker von Lowtzow, der 2011 im Duett mit Michaela Meise seine Klopstock-kontaminierte Konversion vollzog, kann es kaum fassen: Während der off- spring des
protestantischen Pfarrhauses vorm Kanzleramt Gräber aushebt, öffnen sich die
Münchner am Münchner Hauptbahnhof. Freilich nicht alle: Doch schon Tyconius wusste,
dass die eine Kirche zweigeteilt ist, eine helle und eine finstre,
niederträchtige Seite hat.
So exorbitant war dieser Erguss,
dass er bis in die vermau- ertsten Bereiche des deutschen Kulturprotestantismus
vor- drang. Die Klassenkonferenz der Studienräte spielt Görres- gesellschaft: Rainald Goetz bekommt den Büchner-, Frank Witzel
den Buchpreis zugespochen. Zwei idealtypische Ge- stalten des deutschen Katholizismus: der
verhockte, von der katholischen Tugend GEDULD tief durchdrungene Dias- pora-Katholik
und Herz-Jesu-Ministrant Witzel und der im mainland des Katholizismus
sozialisierte Goetz, den er — vergeblich — mit manischer Luhmannlektüre zu
exorzieren versucht. Konfessionslos sind Wiesbadener Geständniszwang und Münchner Bekenntnisdrang jedenfalls nicht.
In Schanghai ist es jetzt vier
Uhr nachmittags. Die victims und addicts der Mode müssen noch bisschen Zeit
totschla- gen bis zum Cocktail, mit dem No Longer/Not yet im Min- sheng
Art Museum eröffnet wird. Chefdesigner Alessandro Michele und Katie Grand, Editorin des Magazins LOVE, ha- ben die Ausstellung für GUCCI kuratiert. Es geht um die Frage, wie das Unzeitgemäße mit dem Zeitgenössischen zusammenhängt. Darüber nachgedacht haben
die chinesi- sche Multimediakünstlerin Cao
Fei, die Installationskünst- lerin Rachel Feinstein, die Neokonzeptualistin Jenny Hol- zer, die britischen Fotographen Glen Luchford und Nigel Shafran, der britische Musiker und Musikproduzent Steve Mackey, die chinesische Op-Art-Künstlerin Li Shurui und die britische Künstlerin und Illustratorin Helen Downie alias Unskilled Worker.
Vor ziemlich genau neun Jahren, vier Jahre nach Heidi Paris’ Tod, schrieb Rainald Goetz seine „eigene, allge- meine
Programmschrift gegen die Verzweiflung“. Ein halbes Jahr später gab es das Weblog KLAGE auf der Homepage des deutschen Ablegers von Vanity Fair. Es war ein tolles Jahr, 2007: Handkes KALI, Goetz’ KLAGE, Tocotronics KAPITULATION…
Goetz schrieb täglich, der Sonntag war in der Regel Ru- hetag. Titel, Text und Bild standen für sich. Anfangs hatten auch die Bilder Titel: Meer mit wild
besonnten Wolken (3. April, siehe oben). Der Titel des Textes: Die Verstümmelten. Mit Herrmann Ungars gleichnamigen Roman („Frau Porges meinte, es sei ein Geschäft, das einem Mann nicht anstehe.
Polzer aber wusste, wie an- genehm und erfrischend es sei, des Morgens
verläßlich geputzte Schuhe an den Füßen zu haben, und zugleich, daß
diese Tätigkeit keineswegs etwas Unmännliches an sich haben könne, da
doch überall, wo Diener im Hause seien, wie in Hotels und bei reichen Leuten, dieses Ge- schäft von Männern besorgt würde.“) hatte Goetz’ Text nichts zu tun. Er war ein antienkomiastisches Manifest:
Missbehagen wegen
Lob, Textwidrigkeit von Lob, Sozi- alterrorismus mit Lob, Aggressivität und
Destruktivi- tät von Lob. […] Das stricherhaft Abgefuckte des Lo- bens, Lobnutten,
Lobtrottel, Trottelkartelle gegensei- tigen Lobens […] Am extremsten hat den Weg dieser Art
von Kaputtheit und Verblödung die dahingegange- ne Springer-Zeitschrift DER FREUND
begangen. Ob man als Autor von Elke Heidenreich mit Lob niedergestampft wird
oder vom Schleimemphatiker Volker Weidermann, ist nur ein gradueller
Unterschied an Scheußlichkeit.
Bemerkenswert ist nicht der „schimpfende Stil“, dessen meisterliche Beherrschung bei Goetz nicht überrascht, sondern die diagnostische Intuition, die Weidermann in derselben Anstalt enden sieht wie Heidenreich: der öf- fentlich-rechtlichen. Einmal erworben scheint man sich auf den anatomisch-klinischen Blick verlassen zu können. Schöner Nebeneffekt: „Schleimemphatiker“ Weidermann bewies 2012, dass er nachtragend ist und durchaus auch anders kann: Am 1. September — eine Woche vor Ablauf der Sperrfrist — konnte Goetz in der FAS in Weidermanns Johann Holtrop-Verriss lesen, dass „er so etwas wie der grantelnde, tourettehaft vor sich hinschimpfende Dorf- schreiber von Berlin-Mitte geworden“ sei.