Samstag, 26. Dezember 2015

Weihnachtsmannhinrichtung


















Die Weihnachtsfeiertage des Jahres 1951 wurden in Frank-
reich von einer Polemik überschattet, auf die sowohl die
Presse wie die Öffentlichkeit empfindlich reagierten und
die der in dieser Jahreszeit sonst so fröhlichen Stimmung
einen ungewohnt bitteren Beigeschmack gab. Schon seit
mehreren Monaten hatten die kirchlichen Behörden durch
den Mund einiger Prälaten die wachsende Bedeutung miss-
billigt, die Familien und Kaufleute der Figur des Weihnachts-
manns beimessen. Sie prangerten eine besorgniserregende
»Paganisierung« des Fests der Geburt an, die von dem rein
christlichen Charakter dieser Gedächtnisfeier ablenke zu-
gunsten eines Mythos ohne religiösen Wert. Diese Angriffe
hatten kurz vor Weihnachten zugenommen; diskreter zwar,
aber ebenso entschlossen erhob neben der katholischen auch
die protestantische Kirche ihre Stimme. Schon erschienen in
den Zeitungen Leserbriefe und Artikel, die aus ihrer Ableh-
nung der kirchlichen Position kein Hehl machten und davon
zeugten, welch großes Interesse diese Affäre hervorgerufen
hatte. Ihren Höhepunkt erreichte sie schließlich am 24. De-
zember anlässlich einer Kundgebung, über die der Korrespon-
dent der Zeitung France-Soir wie folgt berichtet: 

Auf dem Vorplatz der Kathedrale von Dijon wurde vor Hortkin-
dern der Weihnachtsmann verbrannt 

Dijon, 24. Dezember (France-Soir)
Gestern nachmittag wurde auf dem Gitter der Kathedrale von
Dijon der Weihnachtsmann aufgehängt und auf dem Vorplatz
öffentlich verbrannt. Diese spektakuläre Hinrichtung fand im
Beisein einiger hundert Hortkinder statt. Sie war mit Zustim-
mung des Klerus beschlossen worden, der den Weihnachtsmann
als Usurpator und Ketzer verurteilt hatte. Er war beschuldigt
worden, das Weihnachtsfest zu paganisieren, sich wie ein Ku-
ckuck darin eingenistet zu haben und einen immer größeren
Platz einzunehmen. Insbesondere wirft man ihm vor, in alle
staatlichen Schulen eingedrungen zu sein, aus denen die Krip-
pe völlig verbannt sei.
Am Sonntag um drei Uhr nachmittags hat der arme Kerl mit
dem weißen Bart wie viele Unschuldige für ein Vergehen be-
zahlt, dessen sich diejenigen schuldig machten, die seiner
Hinrichtung Beifall zollten. Das Feuer hat seinen Bart ver-
sengt, und er hat sich in Rauch aufgelöst.
Nach der Hinrichtung wurde ein Kommuniqué folgenden In-
halts veröffentlicht:

»Stellvertretend für alle christlichen Heime der Gemeinde,
welche die Lüge bekämpfen wollen, haben sich vor dem
Hauptportal der Kathedrale von Dijon 250 Kinder versam-
melt und den Weihnachtsmann verbrannt.
Es handelt sich nicht um eine Attraktion, sondern um eine
symbolische Handlung. Der Weihnachtsmann wurde geopfert
und den Flammen übergeben. Wahrlich, die Lüge vermag im
Kinde kein religiöses Gefühl zu wecken und ist in keiner Wei-
se eine Erziehungsmethode. Mögen andere sagen und schrei-
ben, was sie wollen, und im Weihnachtsmann ein Gegenge-
wicht zu Knecht Ruprecht sehen.
Für uns Christen muss Weihnachten das Fest der Geburt des
Erlösers bleiben.«

Die Hinrichtung des Weihnachtsmanns auf dem Vorplatz der
Kathedrale ist von der Bevölkerung unterschiedlich aufgenom-
men worden und hat selbst bei den Katholiken lebhafte Kom-
mentare hervorgerufen. Im übrigen droht diese unpassende
Kundgebung für die Organisatoren unvorhergesehene Folgen
zu haben.
Die Affäre spaltet die Stadt in zwei Lager.
Dijon erwartet die Auferstehung des gestern auf dem Vorplatz
der Kathedrale ermordeten Weihnachtsmanns. Heute abend
um achtzehn Uhr wird er im Rathaus auferstehen. Tatsächlich
hieß es in einem offiziellen Kommuniqué, er werde die Kinder
von Dijon wie jedes Jahr auf der Place de la Libération zusam-
menrufen und im Licht der Scheinwerfer von den Dächern des
Rathauses zu ihnen sprechen.
Der Kanonikus Kir, stellvertretender Bürgermeister von Dijon,
soll darauf verzichtet haben, in dieser heiklen Angelegenheit
Partei zu ergreifen. 

So beginnt die wie gewohnt treffliche Übersetzung Eva Molden-
hauers eines Artikels von Claude Lévi-Strauss, der 1952 in Les
Temps Modernes erschienen ist: »Le Père Noël supplicié«. »Der
gemarterte Weihnachtsmann« lautet der Titel der deutschen
Übersetzung, die als Zugabe zu einer Sammlung von sechzehn
Artikeln, die Lévi-Strauss von 1989 bis 2000 für die italienische
Zeitung La Repubblica verfasst hat, vor gut einem Jahr unter
dem Titel Wir sind alle Kannibalen bei Suhrkamp erschienen ist.