Hat man das Gesicht der chinesischen Kinder einmal gesehen,
also das, was laut Barthes den Soundtrack um ein im weiteren
Sinn erotisches Element bereichert, wird man ihr natürlich
folgen wollen, jener Tonspur, die kein geringerer gelegt hat
als Luciano Berio. Nun wird deutlich, welchen Aufwands es
bedarf, um einem Virtuosen des Kulturkonsums vom Schlage
Barthes einen auf den ersten Blick authentischen Moment zu
verschaffen, in dem das, was er als äußerst seltene Ausnahme
beschreibt, nämlich das Vernehmlichwerden des Rauschens
der Sprache, tatsächlich passiert: hervorgebracht von echten
Kindern in einer wirklichen Schule eines ganz konkreten
chinesischen Dorfes.
In einem kurzen Text, der demnächst in einer dem Tanz
gewidmeten Aufsatzsammlung bei Merve erscheint, schildert
Berio seinen Beitrag zu Antonionis Fernsehfilm: "1972 reiste
der italienische Filmemacher Michelangelo Antonioni in
Begleitung einer troupe von Kameramännern und Technikern
des italienischen Fernsehns in die Volksrepublik China. Man
hatte ihm erlaubt, alles (oder so gut wie alles) zu filmen, was
er wollte. Er kehrte mit zwölf Stunden belichtetem Material
zurück, das höchst interessante und sehr schöne Szenen aus
dem Leben der Chinesen enthielt, die zudem bewundernswert
gefilmt waren, dann aber, den unvermeidlichen „Erfordernissen“
der Programmgestaltung des italienischen Fernsehens und der
amerikanischen ABC gehorchend, von zwölf auf vier Stunden
gekürzt wurde. Antonioni hatte mich in einigen Fragen der
Vertonung und der Musik um Hilfe gebeten, und so hatte ich das
Glück, den Filmbericht in seiner ursprünglichen Länge sehen zu
können."
"Eine Szene beeindruckte mich besonders. Man sah Arbeiter
aus Kanton, die sich vor ihrem Gang in die Fabrik, das Fahrrad
an die Mauer gelehnt, mit geschlossenen Augen in meditative
Tänze versenkten, deren Bewegungsabläufe entfernt an die
alten Tänze des chinesischen Kaiserhofes erinnerten. Mein
musikalischer Beitrag war natürlich sehr bescheiden: Ich
versuchte, jenen schemenhaften Wiedergängern des kaiserlichen
Tanzes mehr Konsistenz zu verleihen, indem ich vereinzelte,
sanfte Gongschläge (die sich vom Meer der Fahrradklingeln, das
in den Morgenstunden die chinesischen Städte überschwemmt,
kaum abhoben) mit den gezierten Bewegungen der Arbeiter, die
sich [...] in eine relativ ruhige Ecke der Straße zurückgezogen
hatten, synchronisierte."
Dienstag, 29. April 2008
Es wurde dieser Tage Mai
Donnerstag, 24. April 2008
Mittwoch, 23. April 2008
Das Rauschen der Sprache
"L'autre soir, voyant le film d'Antonioni sur la Chine..."
So beginnt die Schlüsselszene in Barthes kurzem Text, der
nach Momenten sucht, in denen das diskrete Medium Sprache
zu rauschen beginnt. In Ermangelung der Möglichkeit, die
beschriebene Sequenz mit eigenen Augen zu betrachten,
übersetzte ich sie seinerzeit (1999) wie folgt:
"Als ich eines Abends Antonionis Film über China sah, vernahm
ich im Verlauf einer Sequenz mit einem Mal das Rauschen der
Sprache: auf einer Dorfstraße lesen Kinder, an eine Mauer
gelehnt, jeder für sich und alle gemeinsam laut je ein anderes
Buch; da rauschte es auf die richtige Weise, wie eine Maschine,
die reibungslos funktioniert. Der Sinn blieb mir doppelt
verschlossen – wegen meiner Unkenntnis des Chinesischen und
der Überlagerung des gleichzeitig Vorgelesenen. Doch in einer
alle Feinheiten der Szene intensiv empfindenden, gleichsam
halluzinatorischen Wahrnehmung vernahm ich Musik, Atem,
Spannung, Beflissenheit, kurz, etwas wie ein Ziel. Was! Brauchten
wir etwa nur alle zugleich zu sprechen, um die Sprache auf die
eben beschriebene, so seltene wie lustvolle Weise zum Rauschen
zu bringen. Wohl kaum; die akustische Szene bedarf nämlich der
(im weitesten Sinne des Wortes) Erotik, des Elans oder einer
überraschenden Erkenntnis – oder einfach eines begleitenden
Glücksgefühls: eben dessen, was ihr das Gesicht der chinesischen
Kinder verlieh."
Mittwoch, 16. April 2008
Antonionis China
Kürzlich erweckte die Übersetzung eines Textes von Luciano
Berio in mir einen lang gehegten Wunsch, der sich über die
Jahre etwas abgekühlt hatte, zu neuem Leben: endlich einmal
Antonionis China-Film mit eigenen Augen zu sehen.
1999 hatte ich für den akademischen Betrieb einen Aufsatz
von Roland Barthes übersetzt, der noch nicht auf deutsch
erschienen war: "Le bruissement de la langue", das Rauschen
der Sprache. Dieser kurze Text von 1975 kulminiert in der
Beschreibung einer Szene aus Antonionis Film, in deren
Verlauf Barthes "das Rauschen der Sprache" vernommen zu
haben meinte: "In einer Dorfstraße lesen Kinder, an eine Mauer
gelehnt, laut und jeder für sich alle zusammen ein anderes
Buch." (Übersetzung: Dieter Hornig)
Wenn es darum geht, eine Ekphrasis zu übersetzen, entsteht
in mir unweigerlich der Wunsch, das, was von anderen Augen
gesehen und genauestens beschrieben wurde, mit den eigenen
zu sehen. Ob sich dieser Wunsch lediglich meiner besonderen
Disposition schuldet, man in der Regel auf diese außersprachliche
Referenz jedoch durchaus verzichten könnte, mag ich nicht
entscheiden. Er war da und ließ mich nach dem Film suchen.
Vor nunmehr fast zehn Jahren blieb diese Suche ergebnislos.
Diesmal konnte der wiedererweckte Wunsch postwendend
befriedigt werden. Feltrinelli hat 2007 den "unauffindbaren
Dokumentarfilm Antonionis über China" als DVD veröffentlicht.
Der erste Eindruck, den Chung Kuo – Cina auf mich machte:
Es gibt Wünsche, die es hartnäckig zu hegen lohnt.