Vor knapp zwei Monaten tauchte auf der Facebookseite
des Merve Verlags ein Brief auf, den Giorgio Agamben
1970 an Hannah Arendt geschrieben hat. Der maschinen-
schriftliche Brief vom 21. Februar ist in Englisch verfasst
und besteht aus drei knappen Absätzen und einer Nach-
schrift. Im ersten Absatz erklärt Agamben, dass er ihre
Adresse von Dominique Fourcade, einem französischen
Dichter, mit dem er 1966 und 1968 an Heideggers Semi-
naren in der Provence teilgenommen hatte, erhalten ha-
be. Im zweiten Absatz stellt er sich vor: Er sei ein „jun-
ger Schriftsteller und Essayist, für den die Entdeckung
[von Arendts] Büchern im letzten Jahr eine entscheiden-
de Erfahrung war“. Im letzten Absatz erweist der junge
Schriftsteller Hannah Arendt seine Reverenz: „May I ex-
press here my gratitude to you...“, um dann nicht ohne
Pathos fortzufahren: „...und die [Dankbarkeit] derer, die
– wie ich – in der Lücke zwischen Vergangenheit und Zu-
kunft die Dringlichkeit spüren, in der Richtung zu arbei-
ten, die Sie aufgezeigt haben“. Kurz, eine dürre Ehrer-
bietigkeitsadresse – wäre da nicht das Postskript, das den
Brief zum Begleitschreiben werden lässt. Die eigentliche
Botschaft, den Beweis, dass er begonnen habe, in der von
Arendt gewiesenen Richtung zu arbeiten, enthält der Essay
über Gewalt, der dem Brief beiliegt. Ihn hätte Agamben,
wie die letzten Worte des Postskriptums lauten, „ohne die
Leitung durch [Arendts] Bücher niemals schreiben können".
Acht Leuten gefiel das.
Mehr als doppelt so vielen, nämlich exakt 17 gefiel Hannah
Arendts maschinengeschriebene Antwort vom 27. Februar,
deren Durchschrift der Merve Verlag paar Tage nach Agam-
bens Brief postete. Es sei „furchtbar nett“, dass er ihr sei-
nen Artikel geschickt habe, sie befürchte jedoch, dass sie
eine ganze Weile brauchen werde, ihn zu lesen, da ihr Ita-
lienisch „nicht bloß lausig, sondern so gut wie nicht vorhan-
den“ sei. Selbstredend freue sie sich, dass ihm ihre Bücher
gefallen haben. Ebenso freue sie sich, die Bekanntschaft ei-
nes Freundes Fourcades und eines weiteren Teilnehmers an
Heideggers Seminaren in der Provence zu machen. Anders
als man aus der knappen Erwiderung meint herauslesen zu
können, hatte es damit jedoch nicht sein Bewenden. Denn
Arendt machte sich – ihrer spärlichen Italienischkenntnisse
nicht achtend – die Mühe, Agambens Essay zu lesen. Zumin-
dest legt dies die Fußnote nahe, die sie in die deutsche Aus-
gabe ihres Buches On Violence eingefügt hat. Fußnote 44 a
auf Seite 35 von Macht und Gewalt, wie der Titel der „von
der Verfasserin durchgesehenen Übersetzung aus dem Eng-
lischen von Gisela Uellenberg“ lautet, zitiert den Aufsatz
des jungen italienischen Schriftstellers:
„Ein Ansatz hierzu findet sich in dem soeben erschienenen Es-
say von Giorgio Agamben, ›Sui limiti della violenza‹. Er behaup-
tet, nahezu alle primitiven Völker kennten eine »violenza sacra«,
deren Ritual dazu diene, »den homogenen Fluß der profanen Zeit
zu unterbrechen, das Urchaos zu reaktualisieren, um so dem Men-
schen zu gestatten, die ursprüngliche Dimension der Schöpfung
wieder zu erreichen« (S. 11).“