Donnerstag, 9. Juni 2011

Kgf.-Lager


















WÖRTERBUCH DES KRIEGES (Grazer Ausg., 13./14.10.06)

Das Lemma, das ich im folgenden vorstellen möchte, lau-
tet Kgf.-Lager, POW camp. Es handelt sich also um einen 
Eintrag, der zwei bereits vorgestellte Begriffe des Wörter-
buchs hyphenisiert, zu einem Bindestrichwort zusammen-
fasst: den Kriegsgefangenen und das Lager, den POW und
das camp. Dabei geht es mir weder um Präzisierung, noch
um Differenzierung. Um die Wahrheit zu sagen, möchte
ich die Gelegenheit nutzen, um ein Problem, das mir in
einem anderem Zusammenhang erwachsen ist, vor einer
interessierten Hörerschaft seiner Lösung näher zu bringen.
Kurz gesagt besteht mein Problem darin, dass ich konzise
und nach dem state of the art geordnete Informationen
zu Kgf.-Lagern des 1. Weltkriegs benötige, jedoch vergeb-
lich nach so etwas wie einem Wörterbucheintrag gesucht
habe. Insofern ist es ein Gebot der Redlichkeit, den Titel
meines Beitrags zu präzisieren: „Prolegomena zum Wörter-
bucheintrag Kgf.-Lager, Historischer Teil, 1. Weltkrieg, Ab-
schnitt h: Das Lager und die Wissenschaft, Unterabteilung:
Philologie“. Auf die Frage, wie die Philologie ins Kgf.-Lager
kommt, werde ich später zurückkommen. Zunächst möch-
te ich den Status meiner Ausführungen genauer bestimmen:
Es sind Prolegomena in dem Sinne, dass sie im Voraus ange-
ben, welche Fragen man in einem zu erstellenden Wörter-
buchartikel beantwortet finden möchte. Was folgt, ist also
eine Entwicklung, Anordnung und Verbindung von Fragen.

Aus dem bisher Gesagten wird ersichtlich, dass es sich um
einen Komplex handelt, der im schlechten Sinn Geschichte
ist. Und zwar nicht deshalb, weil es um die Kgf.-Lager des
1. Weltkriegs geht, sondern weil Kgf.-Lager überhaupt aus
der Mode gekommen sind. Eine Institution, die im 20. Jahr-
hundert in Mitteleuropa mehrere Generationen geprägt hat,
scheint schlichtweg nicht mehr zu existieren. Ein Blick in
den Irak oder nach Cuba genügt. Wurden im letzten Irak-
Krieg überhaupt Kgf. gemacht? Vielleicht für ein paar Tage.
Um von Kgf. im eigentlichen Sinn sprechen zu können, müs-
sen Kriege länger dauern. Welche Funktion hat Abu Ghraib?
Sind in diesem Gefängnis Kgf. interniert? Oder werden die
ehemaligen Soldaten der aufgelösten irakischen Armee als
Aufständische, d.h. mit einem völlig anderen rechtlichen
Status als Kgf. festgehalten? Der Blick nach Cuba fällt, wie
nicht anders zu erwarten, auf Guantanamo Bay. Dort gibt
es zwar ein Gefangenenlager, das jedoch gerade kein Kgf.-
Lager ist. Eine Erklärung warum es überhaupt in transpa-
renter Lageroptik realisiert wurde, steht noch aus. Denn
in Wahrheit hat es eine ähnliche Funktion wie Stammheim,
wie die britischen Hochsicherheitstrakte für IRA-Mitglieder
oder die spanischen für die Separatisten der ETA. Wieso ist
an die Stelle von Isolation und Abschottung die Transparenz
des Stacheldrahts und des Drahtkäfigs getreten?

Dass das Kgf.-Lager in seiner emphatischen Bedeutung, d. h.
als von Konventionen und Landkriegsordnungen geregelter,
von neutralen Inspekteuren auf seine Ordnungsmäßigkeit hin
überprüfter Raum, ins Bewußtsein einer breiteren Öffentlich-
keit trat, liegt meines Wissens weit zurück. Ich meine jenen
Moment im Krieg in Jugoslawien, in dem in einer deutschen
Illustrierten Fotos von abgemagerten Lagerinsassen erschienen.
Damals wurde ein letztes Mal, wenn auch nur ex negativo, der
hehre Begriff des durch Konvention und Inspektion gehegten
Raums beschworen, gegen den so offensichtlich verstoßen wur-
de. Man erinnere sich nur des Slogans, auf den der ehemalige
Außenminister der Bundesrepublik Deutschland diese Bilder
brachte: Man müsse „ein zweites Auschwitz verhindern“.

Womöglich lässt sich das Ende der Geschichte des Kgf.-Lagers
genau datieren. Mein Vorschlag lautet auf November 1952, als
die erste von China ausgerichtete Olympiade stattfand: in ei-
nem chinesischen Kgf.-Lager in Nordkorea. Im People's Daily 
erinnerte sich kürzlich ein chinesischer Dolmetscher beim An-
blick der Bilder aus Abu Ghraib und Guantanamo an die gute
alte Zeit, als Premier Zhou Enlai die Qualität der Lagerkost
noch persönlich überwachte. Ich zitiere: „We set up English
book library for them, helped them purchase western musical
instruments and organized ‘prisoners’ Olympics’ […] staged in
November, 1952, which were participated by 500 people. Wea-
ring sports suits from China, prisoners competed in track and
field, boxing and basketball. Some black Americans talented in
sports staged a really fantastic show.“ 20 GIs wurden zu soldiers
of peace umerzogen und blieben. Einer von ihnen, James George
Veneris, für immer. In den USA konnte man sich solch unamerika-
nisches Verhalten nur mit Gehirnwäsche erklären. Welche Propa-
ganda damals Recht hatte, steht hier nicht zur Debatte. Vielmehr
möchte ich nur auf einen Typus des Kgf.-Lagers hinweisen, der
gleichsam einen kritischen Grenzfall darstellt: das, was man Vor-
zugslager nennen könnte. Sie gab es bereits im 1. Weltkrieg: in
Deutschland kamen z.B. britische Soldaten aus Irland, Angehörige
von ethnischen Minderheiten des Russischen Heeres und als Hilfs-
truppen für die französischen Armee kämpfende Moslems in Son-
derlager. In diese Reihe gehören auch jene amerikanischen Umer-
ziehungslager des 2. Weltkriegs, die in den USA unter dem Namen 
barbed wire colleges, „Stacheldraht-Hochschulen“ bekannt sind.
In den Insassen dieses Lagertypus kulminiert ein meist unausge-
sprochenes Misstrauen, das dem Kgf. im Allgemeinen entgegenge-
bracht wird. Es speist sich aus dem Vorwurf, der von D’Annunzio
auch tatsächlich erhoben wurde, das Kgf. nur werden kann, wer
sich dem Heldentod, oder zumindest der schweren Verwundung
entziehe. 



















Hiermit ist ein Punkt angesprochen, der möglicherweise
eine erste Situierung des Kgf.-Lagers in der Raumordnung
des Krieges erlaubt. Der Heldentod, die Verwundung und
die Gefangenschaft eröffneten im 1. Weltkrieg die drei
regulären Auswege aus der Schlacht (tatsächlich sind es
mit dem einzig gangbaren, der Desertion, vier). Dies mag
auch vor dem 1. Weltkrieg der Fall gewesen sein. Neu war
jedoch, dass diese Auswege in besondere Räume münde-
ten, die ich mit Foucault als Heterotopien der Schlacht
bezeichnen möchte: der Soldatenfriedhof, das Lazarett
und das Kgf.-Lager.

1. Der Soldatenfriedhof: Ich spreche hier zunächst von je-
nen seriellen Stelenfeldern, die in unmittelbarer nähe zum
Schlachtfeld, in Weiß auf Grün, meist dem Grün hügeliger
Wiesen, heterochron die Bilanz der Schlacht ziehen sollen.
Die Serialität und Gleichförmigkeit der Merksteine, die auf
krude Weise gewisse Tendenzen der landart vorwegnehmen,
sagen unmissverständlich, was es heißt, im Felde zu bleiben:
nicht als Vater, Bruder oder Sohn gestorben zu sein, sondern
als Teil einer zwar hierarchisch geordneten, gleichwohl uni-
formen Truppe. Wenn laut Foucault der Friedhof eine exem-
plarische Heterotopie ist, nämlich das zweite Zuhause der
Familien einer Stadt, dann ist der Soldatenfriedhof eine
Heterotopie zweiter Ordnung.

2. Auch das Lazarett ist eine schlachtfeldnahe Heterotopie
des Krieges, die ebenfalls im 1. Weltkrieg ihre erste Blüte er-
lebte. Durch internationale Abkommen vor Kampfhandlungen
geschützt und durch eine interessante Konstruktion von unter
militärischer Befehlsgewalt stehenden nationalen Komitees
des Roten Kreuzes geführt, funktionieren sie nach dem Sche-
ma des einschließenden Ausschlusses wie humanitäre Stabili-
satoren des Schlachtfeldes. Ihr Frieden trügt. Gänzlich hete-
rotop wird das Lazarett im 1. Weltkrieg durch die massive Mo-
bilisierung weiblicher freiwilliger Krankenpflegerinnen, die in
vaterländischen Frauenvereinen organisiert waren. Damit tre-
ten erstmals (die Amazonen abgerechnet) systematisch Frauen
in den Raum des Krieges. Doch wir haben es hier nicht nur mit
einer befriedeten und sexualisierten Heterotopie zu tun. Die
„weißen Engel“ wurden von „Göttern in Weiß“ kommandiert.
Bekanntlich hat Thomas Pynchon dem engen Zusammenhang
der Schönheitschirurgie mit der plastischen Rekonstruktions-
chirurgie der beiden Weltkriege einige unvergessliche Seiten
gewidmet.

3. Das Kgf.-Lager ist wohl die wichtigste Heterotopie, die der
erste Weltkrieg hervorgebracht hat. Offensichtlich hatte man
mit allem gerechnet, nur nicht mit den sich aus nunmehr gül-
tigen internationalen Abkommen ergebenden Standards der
Unterbringung von Kriegsgefangenen. Und deren Zahl wuchs
schnell an. Nicht einmal, ob die Unterbringung in Lagern erfol-
gen sollte, war anfangs klar. Allerdings hatte man im 1. Welt-
krieg vier Jahre Zeit, um das Lagersystem zu perfektionieren.

Wie verhält sich das Kgf.-Lager zum Schlachtfeld und zu den
anderen Heterotopien. Anders als im Lazarett ist das Lager,
nicht anders als die Kaserne, frauenfrei. Anders als auf dem
Soldatenfriedhof ist sein Insasse am Leben. Das Verhältnis des
Kgf.-Lagers zum Schlachtfeld ist besonders paradox. Es gibt
Kontiguitäten, Spiegelungen, Verkehrungen. Der Stacheldraht
vor dem Schützengraben ist derselbe, wie der, der das Lager
überhaupt erst konstituiert. Und die Langeweile, das Grund-
gefühl des Lagers, herrscht – wenn gerade keine Material-
schlacht tobt – auch in den Gräben. Einen grundlegenden
Unterschied markierte jedoch die Technik. Während die Ver-
schaltung von Waffen- und Nachrichtentechnik das Schlacht-
feld allererst konstituiert, fehlt sie im Lager fast völlig. Inso-
fern könnte man das Lager eine Allotopie des Schlachtfeldes
nennen. Dagegen spricht, dass sich im Lager dieselbe hierar-
chische Struktur wie in der Kampfhandlung herstellt. So gibt
es im 1. Weltkrieg Offiziers- und Mannschaftslager, die unter-
schiedlichen Regimes gehorchen: dem des Ferien- und dem
des Arbeitslagers. Folglich ist das Kgf.-Lager eine in sich hete-
rotope Heterotopie des Schlachtfeldes, zu dem sie sich allo-,
para- und anatopisch verhält.