Dienstag, 28. August 2012

Abfall für viele


















Sonntag, 24.5.98, Berlin.

1152. Wo bleiben die Geburtstagsgeschenke? Morgens früh
um 5 nach halb 6 kam die erste Lieferung: kolikartige Ma-
genkrämpfe, brutale Kopfschmerzen weckten mich auf, alles
voll Grippegefühl, der ganze Körper. Und ich dachte, passt
super, Tag im Bett, abgeschlagen, niedergeschlagen, krank.
Praxis V: KRANK. Nicht Kritik, KRANK.

Aussicht
Pfirsich spricht Gedicht
Ist nicht richtig
Licht
Geschicht

So.
Oder so ähnlich.
Oder ein bißchen anders.

[…]

2259. Ich flippe durch die Kanäle, lande im WDR, da kommt ge-
rade wieder Patrick Walders Kritik-Film über Techno-Literatur,
mit dem Rave-Verriß fürs Fernsehen. Ich muß ihn mal fragen,
ob er ihn flächendeckend an alle dritten Programme verkauft
hat. Danach, beim Jubel-Porträt vom großen Theaterschreiber
Albert Ostermaier, denke ich mir wieder: lieber noch so schlimm
verrissen werden, als sich abfilmen, und sich dann von den Trot-
teln vom Fernsehen auch noch loben lassen. Lob vom Fernsehkul-
turfilmer: die letzte Erniedrigung, die allerletzte. Theo Roos hat
uns das angetan, mit seinem Lall-Film über das Mix-Büchlein. Das
war echt hart. Da habe ich mich wirklich zutode geschämt, daß
ich da mitgemacht habe. Ich war dabei: ja, ich kriege immer die-
ses Nazigefühl, bei diesen ganzen Kultur-Nutten-Sachen, weil es
auf so eine fiese Art dazugehört, weil die Weigerung so was blöde
Prätentiöses hat, weil man sich irgendwie natürlich auch selber
schadet damit, und weil es doch und im Prinzip und im Grunde
und in echt wirklich komplett ASOZIAL ist, der ganze Scheiß, In-
terview, Porträt, bla bla, kaputt, verottet, verlogen, böse und
gegen alles Richtige gerichtet. Ja, nein, echt, genau. So ist das.
Dann wollte ich meinen Heizblaser anmachen, Kurzschluß, Brand-
geruch, wo ist der Schraubenzieher? Aufschrauben und Reparieren,
funktioniert, das macht gute Laune.

Rainald Goetz, Abfall für alle. Roman eines Jahres, Frankfurt am
Main: Suhrkamp 1999, S. 346f.


                                                                26. Juni [2009], Mailand

Aus Offenburg ruft abends Peter Weibel an, um Glückwünsche zum
62. Geburtstag zu übermitteln. Er gibt den Hörer weiter an eine
dort versammelte Gesellschaft. Fast ungläubig höre ich die Grüße
von Ulla Berkéwicz, Raimund Fellinger, Hubert Burda, Prinz Max von
Baden und Peter Handke.
Das Abendessen im Nobellokal Trussardi della Scala neben der Oper
litt sehr darunter, daß das Restaurant der lokalen Kochkunst de[n]
Rücken gekehrt hat und sich an einer imaginären haute cuisine orien-
tiert, von der man die Prätention spürt, aber den Erfolg nicht sieht.
So saß man da, schaute aus dem Fenster auf den schönen Platz vor
der Oper und versuchte doch zu glauben, es sei ein Fest.
Aristoteles stellt fest, der großgesinnte Mensch (megalopsychos) ist
nicht anthropológos — kein Schwätzer von allzu menschlichen Affai-
ren. (Nikomachische Ethik 1125a5) Im Griechischen gibt es überdies
ein Verbum anthropologéo, ich vermenschliche, ich übersetze (sc.
göttliche Dinge) in humane Ausdrücke. Die moderne Anthropologie —
ist sie vielleicht eine gossip-Disziplin im philosophischen Register?

Peter Sloterdijk, Zeilen und Tage. Notizen 2008-2011, Berlin: Suhr-
kamp 2012, S. 232f.