Samstag, 9. September 2017

Kunst am Bau


















Crazy, close reading, eine literaturwissenschaftliche Mo-
de der 50er Jahre, scheint wieder en vogue zu sein. In Stel-
lung gebracht wird dieser ranzige Anachronismus, um ange-
hende Sozialpädagogen in die Schranken zu weisen. Die ha-
ben sich erdreistet, auf die Unangemessenheit einer dürfti-
gen spanischen Wortfolge des Werbetexters Eugen Gomrin-
ger auf einer Wand ihrer Hochschule hinzuweisen und deren
Modifikation zu fordern. Grund genug, dass große Geschütze
aufgefahren werden. Trauriger Höhepunkt: Michael Lentz’
ganzseitiges Apotropaion im Feuilleton der FAZ, das bei all
seiner Pseudogelehrtheit vor allen Dingen eines sagt: Wir er-
klären Gedichte, ihr betreut unsre Kinder…

Das Verdienst, diese Ansage auf Sendung-mit-der-Maus-For-
mat heruntergebrochen zu haben, gebührt der Slampoetin
Nora Gomringer. In einem Facebook-Video erklärt sie, die
sich als jüngste Direktorin einer bayerischen Kulturinstituti-
on ever eigentlich mit ganz anderen Sachen beschäftigen
sollte, sich als „Tochter der Literaturwissenschaftlerin und
Lehrerin Nortrud G. und des Dichters und Ästhetikprofessors
Eugen G.“ nicht nur genetisch dazu prädestiniert, sondern
in der Pflicht sehe, von ihrer Belehrungsbefugnis Gebrauch
zu machen. Immerhin lässt sich Nora-Eugenie, die Wohlgebo-
rene, in ihrem volkserzieherischen Furor so tief herab, das
Sprachkunstwerk zum Abbild einer außersprachlichen Wirk-
lichkeit zu degradieren: „inhaltlich [sei das Gedicht aveni-
das] eine Szenenbeschreibung der Ramblas in Barcelona“.


















Barcelona, 1951, war da nicht was? Um genau zu sein, Mitte
März kam es zu mehreren Generalstreiks. Der Spiegel vom
21. März berichtet unter dem Titel „Hang zur Anarchie“:
Spanien wird autoritär regiert. Die staatlich gelenkten Syn-
dikate der Arbeitnehmer kennen kein Streikrecht. Trotzdem
legten letzte Woche in der katalanischen Haupt- und Indus-
triestadt Barcelona 300 000 Werktätige die Arbeit nieder,
demonstrierten auf der Straße, warfen Straßenbahnen und
Autos um und wollten das Rathaus in Brand stecken. Die Un-
ruhen konnten von den staatlichen Organen (durch Marine-
truppen verstärkt) schnell unterdrückt werden.
Auf den avingudas, um es katalanisch zu sagen, prägen 1951
weder dones noch flors das Bild.

Doch ein Gedicht besteht nicht aus Tagespolitik, sondern aus
Wörtern: aus besagten avenidas (Boulevards), mujeres (Frau-
en), flores (Blumen) und (y) un admirador (einem Betrachter).
Gefragt ist also der Hispanist. Sollte er lexikalisch informiert 
sein, weiß er, dass flor nicht nur ‘Blume’ sondern auchBlüte’
bezeichnet. Und sollte er sich rudimentär mit Botanik ausken-
nen, weiß er, dass Blüten die Geschlechtsorgane der Pflanzen
sind. Hat er sich darüber hinaus ein wenig mit falangistischer
Ikonographie beschäftigt, überrascht ihn die Kombination von
Frauen und pflanzlichen Geschlechtsteilen nicht. Ein Blick auf
das Plakat der ersten von Generalissimo Francisco Franco und
seiner Ehefrau Carmen Polo besuchten Feria de Abril in Sevilla
(1953) genügt: