Sonntag, 28. Dezember 2008

Congedo illimitato provvisorio


Vor genau dreißig Jahren ermöglichte der Nouvel Observateur
ein stilistisches Experiment. Die Zeitschrift ließ Roland Barthes
Dezember 1978 bis März 1979

Samstag, 20. Dezember 2008

Lux ex luce


The diagonal of May 25, 1963 (to Robert Rosenblum),
Leuchtstoffröhre (2,44 m) auf Wand (45°), 1963.


"Irgendwie glaube ich, dass der sich ändernde Standard
des Beleuchtungssystems meine Idee in sich weitertragen
sollte. [...] Das Medium trägt den Künstler." (Dan Flavin)

Es gibt kaum einen Gegenstand der Alltagskultur, der
noch nicht in aller Ausführlichkeit dargestellt worden wäre.
Doch über die Umwälzung in der Beleuchtungskultur, die
sich in den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts vollzog,
sucht man selbst den kleinsten Hinweis vergeblich. Denn
damals verschwanden
die alten Glühlichtanlagen aus den
Fabriken, Großraumbüros und Kaufhäusern, um durch
Leuchtstoff-Systeme ersetzt zu werden. Die Geschichte
des Leuchtstoffröhrenlichts, das nahezu alle öffentlichen
Innenräume ausleuchtet, liegt im Dunkeln. Anders als die
Neonröhre, die als Komplizin von night life und Reklame
der sogenannten Kulturwissenschaft der Gesellschaft des
Spektakels zwangsläufig zum Gegenstand werden musste,
hat die Leuchtstofflampe als Lichtregime der Arbeitswelt,
Untergrundbahnen, Verwaltungen und Schulen nur wenig
Freunde finden können.

Ein binäres Licht-System entstand, dessen Werte aus dem
Bereich der gefühlten Temperatur stammten: warm und kalt.
Während man seither das "kalte" Licht der Leuchtstoffröhre
mit Disziplinierung und Kontrolle assoziiert, verbindet man
das "warme" mit Vergnügen und intimer Ausgelassenheit. Nur
vereinzelt trifft man auf Nationen, die einen Kult zu Ehren des
kalten lux ex luce (
um vom menschlichen Auge wahrgenommen
werden zu können,
muss die vom Quecksilberdampf emittierte
UV-Strahlung
von Leuchtstoffen an der inneren Glaswand der
Röhre in sichtbares Licht verwandelt werden) entwickelt haben.
Man erzählt sich, dass die Yoruba der amerikanischen Diaspora
ihre Kinderzimmer mit blauem Fluoreszenzlicht ausleuchten.
Auch strahlt in den 70er Jahren aus zahllosen Küchenfenstern
das cool white einer zum Kreis gebogenen Röhre in die Nacht,
hier und da ergießt sich farbiges Röhren-Licht über subtropische
Zimmerpflanzen.
Mit Punk hört das Nachtleben Ende der 70er
Jahre
auf, lichtscheu zu sein: Die Nacht erstrahlt »...in daylight
or cool white«
. Flavin hatte Recht behalten. Aber wie kam das?

Am 25. Mai 1961 kündigte der 35. Präsident der USA in einer
Regierungserklärung an, noch im Laufe des Jahrzehnts einen
Menschen nicht nur auf den Mond zu schießen, sondern auch
wieder unbeschadet zur Erde zurückzuholen. Auf den Tag genau
zwei Jahre später antwortete Dan Flavin mit der Befestigung einer
8 feet (2,44 m) langen Leuchtstoffröhre im Winkel von 45 Grad
an einer Wand seines Brooklyner Lofts. Das ehrgeizige Apollo-
Programm diente vor allem dazu, einen Farbfernsehstandard
weltweit durchzusetzen, Flavin griff auf eine im wahrsten Sinne
des Wortes bestellbare "standardisierte industrielle Vorrichtung"
zurück. 1965 beschrieb Flavin in der autobiographischen Skizze
«...in daylight or cool white» den fluoreszierenden Lichtstreifen
als "schwebendes gasförmiges Bild, das durch seine Leuchtkraft
die physische Gegenwart fast bis zur Unsichtbarkeit verleugnete"
und "den tatsächlichen Raum aufzulösen imstande war".

Samstag, 13. Dezember 2008

Gusto filologico


Le pause di "Mamma Roma"
Diario al registratore
3. Mai 1962


Rosso Fiorentinos Kreuzabnahme (1521)


Pontormos Grabtragung Christi (1525-28)

Samstag, 6. Dezember 2008

Isola degli angeli


"Dreizehn Jahre streunte ich in einem wunderlichen Freige-
hege,
verbrütete die zweitbesten Zeiten meines Lebens in
einem erstaunlichen Torso, einer spürbar unvollständigen

Stadt. Obgleich ein Unbehauster, war ich zu Hause
nur zu
Haus – nur ein paar Ecken weit reichte die Sympathie,
das
reichte.
[...] Ich war nach Berlin gegangen, weil ich London
und New York City näher sein wollte – und nicht
Leipzig,
Brest oder Wroclaw. Was bedeuten Pomoschtsch,
Bolschoi
und Narodni? Ich verstehe weder Polnisch oder
Russisch noch
Serbisch oder Sorbisch. Ich war hierhergekommen,
weil ich
den Westen in zugespitzter, gleichwohl
auch teilannullierter
Form erleben wollte."

So steht es in
Zeuge der Einheit, der ersten von "sieben neuen
Lektionen", die
Der gelernte Berliner Bernd Cailloux seit dem
Mauerfall durchgenommen hat. Sie sind kürzlich bei Suhrkamp
erschienen. Wer Anfang Dezember
der Präsentation des West-
Berlin-Hefts der Zeitschrift für Ideengeschichte beiwohnte,
wird es bedauert haben, dass nicht Cailloux, sondern Schlögel
auf dem Podium saß. Denn
außer Ressentiment hatte der Ost-
europaexperte zum Gegenstand nichts beizutragen: Er habe
nichts sehnlicher erwartet, als die Abwicklung des Zustandes
"West-Berlin" und im übrigen bereits in den 70er Jahren der
Stadt den Rücken gekehrt. Ganz weit vorne habe er damit
gelegen; schließlich sei der Dichter Hans Magnus Enzensberger
seinem Beispiel gefolgt und habe Friedenau 1979 richtung
München verlassen...

Folglich waren die in der intellektuell verödeten Stadt
Zurück-
gebliebenen
von allen guten Geistern verlassen. Schon bald
soll diese Lücke jedoch von besseren Geistern geschlossen
worden sein. Man erzählt sich nämlich, dass sich eine kleine
Schar Engel Ende der 70er Jahre in den Neubau der Staats-
bibliothek einquartiert habe. Dort hätten sie sowohl den
Zurückgebliebenen als auch den Zugezogenen bei der Lektüre
beigestanden. Anders als die brillanten Geister, die der Stadt
den Rücken gekehrt hatten, sollen sie unaufdringlich gewesen
sein, so gut wie unsichtbar.



Theologen vermuten, dass diese Engel strafversetzt wurden,
weil man sie des Pelagianismus verdächtigte. Pelagius vertrat
bekanntlich den Standpunkt, dass die Gnade unverlierbar sei.
Doch wozu Engel, wenn der Mensch die Gnade nicht verlieren
kann, weil er wesentlich sündlos ist. Einem Gott, der davon
überzeugt ist, dass die Schöpfung zugrunde ginge, wenn sie
nicht unablässig gewartet werden würde, müssen Mitarbeiter
suspekt sein, die, statt Führungsqualitäten zu beweisen und
die Menschen zu lenken, sich darauf beschränken, ihnen
Beistand zu leisten.


Weder führen, noch lenken, nicht einmal schützen, sondern
einfach alles so irreparabel sein lassen, wie es ist. Nichts tun
außer den Menschen buchstäblich zu assistieren, bei ihnen zu
stehen, egal was sie tun. In der himmlischen Hierarchie steht
dieser Engels-Dienst Gott allein zu. In West-Berlin wurde er
versuchsweise am Menschen ausgeübt. Das Ergebnis war ein
neuer Künstlertypus: der geniale Dilletant (Dilettantismus
plus Engel: [v.l.n.r.] Otto Sander als Engel Cassiel, Blixa Bar-

geld und Nick Cave).