Freitag, 16. September 2011

Gramat 1943


















Den Frühling und Sommer des Jahres 1943 verbrachten Ni-
na Ivanoff und Alexandre Kojève in Gramat, einem Ort in
der Region Midi-Pyrénées, der mit seinen dreitausend Ein-
wohnern zu klein war, um als Kleinstadt gelten zu können.
Hierhin hatte es die Schwestern Anne und Katherine Men-
delssohn auf ihrer Flucht aus Paris verschlagen. Anne, die
wie ihre Jugendfreundin Hannah Arendt aus Königsberg
stammte, war mit dem — ebenfalls aus Deutschland stam-
menden — Philosophen Eric Weil verheiratet, der Kojèves
Hegelvorlesungen regelmäßig besucht hatte. Gelegentlich
eines Besuchs bei Anne, deren Mann seit 1940 — unter fal-
schem Namen — als Soldat 2. Klasse in einem deutschen
Kriegsgefangenenlager bei Fallingbostel einsaß, hatten Ni-
na und Alexandre beschlossen, sich einmal für längere Zeit
in Gramat einzuquartieren.

Die Ruhe der ländlichen Abgeschiedenheit, in der Kojève
mit der Niederschrift seiner Esquisse d’une phénoménolo-
gie du droit begann, sollte jedoch durch eine Büchersen-
dung empfindlich gestört werden. Auf Wunsch des Autors
hatte ihm sein ehemaliger Hörer Raymond Queneau das im
Sommer 1943 bei Gallimard erschienene Buch eines weite-
ren Hörers seiner Hegelvorlesungen geschickt: Georges Ba-
tailles L’expérience intérieure. Durch die Lektüre aus der
dörflichen Idylle gerissen, schrieb Kojève nach deren Be-
endigung umgehend einen Brief an Bataille, der wegen sei-
ner besonderen Bedeutung für die Bestimmung des Verhält-
nisses, in dem der „Lehrer“ zu seinem fünf Jahre älteren
„Schüler“ stand, hier in voller Länge (in deutscher Überset-
zung) wiedergegeben wird.

     Teurer Freund,
     ich werde Ihnen diesen Brief erst schicken, wenn ich Ih-
re Adresse erhalten habe. Doch will ich Ihnen schon jetzt
schreiben, da ich Ihr Buch (Danke!) gerade gelesen habe
und ich darüber sprechen möchte, solange es mir noch in
lebhafter Erinnerung ist.
     Gramat ist eine katholische Stadt, ausgestattet mit
einem großen Kloster. Auch bin ich hier auf zwei schmale
Bücher gestoßen, die ich Lust hatte, wieder einmal zu le-
sen: die Regel des Hl. Benedikt und den dreifachen Weg
des Hl. Bonaventura. Ich las sie gerade, als ich Ihr Buch
erhielt. Es war das dritte, das ich nach den beiden ande-
ren gelesen habe. Ein glücklicher Zufall.
     Nun — ihr Buch ist gewiss nicht schlechter. Noch bes-
ser. Es unterscheidet sich nicht einmal (es ist ein wenig
länger — das ist alles). Sonderlich überrascht hat mich
das nicht, da ich seit langem weiß, dass sich alle „Mysti-
ken“ gleichen. (Sie mögen dieses Wort nicht, wissen aber
genau, dass Sie ein mystisches Buch geschrieben haben.)
Ein einziges Thema — das Schweigen verbal ausdrücken (!),
das Unsagbare sagen (!), durch die Rede (!) das Dunkle ans
Licht bringen. Das Schweigen (verbal!) ausdrücken heißt
aber, zu sprechen, ohne etwas zu sagen. Es gibt unendlich
viele Arten, dies zu tun. Jedoch ist (wenn es gelingt) das
Ergebnis immer dasselbe: das Nichts. Deshalb gleichen sich
alle authentischen Mystiken: denn wahrhaft mystisch sind
sie nur, wenn sie vom Nichts auf angemessene Weise spre-
chen, d. h. indem sie nichts sagen. Und Ihre Mystik scheint
mir authentisch zu sein.
     Par delà la Poésie [„Über die Dichtung hinaus“] lese ich
auf der Bauchbinde. Sollte die Dichtung Sinn und Richtung
haben (ich bin mir immer noch nicht sicher, ob sich ein Ge-
dicht lediglich auf einen Sinn aufpfropft oder einen Sinn
hat, der ihm eignet? Wie denken Sie darüber?) Würden Sie
auch sagen „Über die reine Mathematik hinaus“? Ich weiß
es nicht.
     [Lücke im Text] warum schreibt man? Sie stellen die
Frage. Meines Erachtens beantworten Sie sie jedoch nicht.
Car communier, c'est communiquer. Doch kann man das
Nichts mitteilen, d. h. — weniger pittoresk — kann man
kommunizieren, ohne etwas mitzuteilen?
     Freilich schließen sich die Mystiker (die nicht verrückt
sind oder werden) zusammen. Doch ihr Zusammenschluss
ist eine sogenannte religiöse Sekte, eine Vereinigung durch
oder um das Schweigen (das klingen [religiöse Gesänge],
bildlich sein oder von Gesten erfüllt sein [das Ritual] kann).
     Und sie schreiben — wie Sie selbst es tun. Warum? Ich
denke, dass sie als Mystiker keinen Grund haben, dies zu
tun. Doch ich glaube auch, dass ein Mystiker, der schreibt
(also nicht verrückt ist — denn ich setze voraus, dass das,
was er schreibt, stichhaltig ist), nicht bloß Mystiker ist.
Er ist auch ein „gewöhnlicher Mensch“ und somit der Dia-
lektik des Anerkennens unterworfen. Deshalb schreibt er.
Und deshalb findet man im mystischen Buch (am Rande des
durch sinnlose Rede ausgedrückten Schweigens) einen ver-
ständlichen, insonderheit politischen Inhalt. Wie auch bei
Ihnen.
    Lassen Sie uns, weil es für uns beide so bequem ist, von
Hegel sprechen. Ich habe S. 72 (lesen Sie sie noch einmal)
eine höchst verständliche und zudem absolut zutreffende
Stelle über Hegel gefunden. Doch diese Kritik an Hegel ist
keine Kritik des Hegelianismus, der in Marx — Lenin — Sta-
lin weiterlebt. Für letztere liegt die „Befriedigung“ in der
 Zukunft. „Man bleibt am Leben, man kann sich nicht sicher
sein, man muss weiterhin...“ – bei Ihnen heißt es: „flehen“.
Sie aber sagen: – „kämpfen“. Das ist der ganze Unterschied,
der zwischen Ihnen und jenen besteht. Doch sagen Sie nicht,
dass letztere nur ein „Spatenstiel“ seien. Hegel glaubte, ei-
ner zu sein. Aber Stalin ist fraglos ein vollständiger Spaten,
der sehr gut macht, was er zu tun hat.
     Sie wissen das nur allzu gut und sagen es selbst S. 76:
„Die innere Erfahrung ist das Gegenteil des Handelns.“ Ja.
Und das, was unmittelbar folgt, ist durchaus verständlich
und ergibt Sinn. Aber falsch. D. h. ganz einfach „heidnisch“,
„griechisch“: Ontologie des ewigen Seins. Denn Sie sagen:
„Verschiebung der Existenz auf später“. Wenn aber (wie die
christlichen Philosophen meinen) diese „Existenz“ nur spä-
ter existiert? Oder wenn (wie es tatsächlich ist und von He-
gel gesagt wurde) die Existenz nichts anderes ist als diese
„Verschiebung auf später“. Die Existenz — um mit Aristo-
teles zu sprechen (der sich falsch verstanden hat) — ist der
Übergang von der Potenz zum Akt. Wenn der Akt vollzogen
ist, hat er die Potenz erschöpft. Er ist ohne Potenz, unver-
mögend, inexistent: er ist nicht mehr. Das Dasein des Men-
schen ist die Verschiebung auf später. Und dieses „später“
selbst ist der Tod, ist nichts. Sagen Sie bloß nicht, dass sei
„Relativismus“, usw. Ja, wenn man immer noch „heidnisch“
ist wie die „Modernen“. Doch ist man es nicht mehr, dann
ist das Werden das Sein, ist die Zeit der Begriff, und mithin
die Wahrheit.
     Eben darum geht es, wie ich glaube. Und man kann nicht
über die Frage diskutieren, ob ich unsterblich bin (das „Nir-
wana“, das ist einerlei) oder nicht. Man kann lediglich mit
Hegel sagen: Wenn ich unsterblich bin („griechisch“), d. h.,
wenn die Zeit nicht der Begriff ist, dann begreife ich nichts
mehr (kein Weiser). Denn dann gäbe es keine ✝Deduktion
des Selbstbewußtseins, keine Phän. des Geistes, die die
Tatsache einer sinnvollen Sprache, d. h. des Buches, das
man schreibt, erklärte✝. Doch das ficht Sie nicht an, da
für Sie Wahrheit unmöglich ist. Nun muss das Schweigen
aber nicht erklärt werden und kann es auch gar nicht: Man
muss sprechen, um zu erklären, ja sogar schon um die Fra-
ge zu stellen. Der Kreis schließt sich also und Sie sind unan-
greifbar: sprachlich. Wenn Sie nicht unbequem werden,
lässt man Sie in Frieden. Wenn doch — beseitigt man Sie,
ohne auf Widerstand zu treffen. Denn die innere Erfahrung
ist das Gegenteil des Handelns (S. 76). Wenn Sie kämpfen —
wird die Sache ernst (oder kann es werden). Doch dann han-
deln sie bereits, sind nicht mehr „kontemplativ“. Die Sache,
für die Sie kämpfen, existiert also nicht mehr. Das ist be-
dauerlich — für Sie.
     So viel zur „Weisheit“, die in Ihrem Buch enthalten ist.
Sie ist jedoch nur implizit in ihm enthalten. Würden Sie sie
explizieren, würden Sie sprechen✝ wie ich, wären Sie ein
Weiser. (Vorausgesetzt, Sie erlauben sich keinen mystischen
Unsinn wie: „Die Welt des Projekts verlässt man durch ein
Projekt“ (S. 77): Denn dann sind Sie nichts als ein Mystiker,
der per definitionem nichts sagt.) Wenn Sie sie nicht expli-
zieren, sind Sie nichts als ein Philo-soph. Und Sie sind einer.
     Folglich wünsche ich Ihnen, dass sie von der Potenz zum
Akt, von der Philosophie zur Weisheit gelangen. Doch dafür
müssen Sie zunichte machen, was nichts ist, d. h. das my-
stische Element Ihres Buches zum Schweigen bringen.

                                                            A. Kojève

P.S.: Der Widerspruch ist ein Nichts, d. h. in Worte gefass-
tes Schweigen. Deshalb wird sie von den Mystikern verwen-
det. Und von Ihnen selbst auf S. 77: man verlässt die Welt
des Projekts durch ein Projekt.

P.P.S.: Was für ein wundervolles Zitat von Blake (S. 103). Die
ganze Mystik ist in diesem Wort enthalten: „Nobodaddy“. Wa-
rum hat man es nicht dabei belassen?