Montag, 10. November 2014

Warum es die Welt nicht gibt


















Widersinnigste, durch zwei Kriege beschleunigte Flucht-
linien mussten sich treffen, damit meine Geburt an ei-
nem der unwahrscheinlichsten Orte stattfinden konnte:
dem amerikanischen Sektor der ehemaligen Reichshaupt-
stadt. Fünfundzwanzig Jahre lebte ich glücklich in jener
selbstgenügsamen urbanización, in der die altehrwürdige
Unterscheidung von extra und intra muros neue Plausibi-
lität erlangte.

Dann streikten im Wintersemester 1988/89 nicht nur in

Westberlin die Studenten. Einige Institute der FU wurden
besetzt, Vollversammlungen und autonome Seminare ab-
gehalten. Goldene Zeiten des Lesens und Posens. Am En-
de Erschöpfung, Resignation ins nicht Erreichte. Letzter
verzweifelter Aufruhr: eine Solidaritätsdemo mit sichtlich
bewegten chinesischen Kommilitonen auf der Straße des
17. Juni für die Studenten auf dem Platz des himmlischen
Friedens — lange bevor es ernst wurde.


















Das vorschriftsmäßig verlaufende Sommersemester 89 be-
steht in meiner Erinnerung aus einer einzigen Lehrveran-
staltung, deren genaue Typenbezeichnung (PS, HS, OS, V)
mir entfallen ist. Jedenfalls bot der Dozent einen Kittler’
schen Nietzsche-Kommentar (Geburt der Tragödie, Wag-
ner-Schriften, etc.), der gelegentlich durch Wissensfragen
an die Hörer unterbrochen wurde. Taubes weilte nun seit
gut zwei Jahren nicht mehr unter den Lebenden, was Bolz
verwunden zu haben schien. Er war bester Dinge. Man be-
kam direkt Lust auf ein Auslandsstudium. Die Semesterfe-
rien mit der Evaluierung diverser spanischer Universitäts-
städte verbracht: Erste Zweifel regten sich. Zweifel, die
schnell zerstreut waren, als mich der Restelan die Ferien-
sprechstunde des Leiters der ZE Moderne Sprachen wahr-
nehmen ließ.

Vorbei an dem Hörsaal, in dem vor paar Monaten Ringvor-

lesungsgast Sloterdijk — obgleich von der Holzpistole des
Lehrveranstaltungssprengkommandoführers Christian be-
droht — unerschrocken das eigentliche Problem des Uni-
streiks benannte: „Sie setzen den Fuß auf eine Leiche.“
Vor der Zentraleinrichtungsleitertür sprach ich ein Stoß-
gebet an die vier norddeutschen Nothelfer: „Etwas besse-
res als den Tod findest du überall!“ Und siehe da, ehe ich
meine Fragen zu den Sprachprüfungen für ein Auslandssti-
pendium stellen konnte, war ich es, der zu antworten hat-
te: Ob es im Bereich des Vorstellbaren läge, lieber heute
als morgen nach Barcelona aufzubrechen, um als erster
Erasmusstudent der FU Berlin an der Escola Universitària
de Traductors i Intèrprets der Universitat Autònoma de
Barcelona ein Studienjahr zu verbringen. Ende September
ging es im schwer beladenen Kadett richtung Katalonien.

















Von Wohnungssuche und Studienleistungsanerkennungsfragen absorbiert, ganz weit weg von Deutschland. Und es ist 1989: kein Internet, kein mobile 

Freitag, 7. November 2014

Willensmetaphysik

 
















Wer seinen Kindern schon in jungen Jahren auf spielerische
Weise den Geist unermüdlicher Tätigkeit einpflanzen möch-
te, dem sei zum Besuch eines kulturellen Monuments unse-
rer westlichen Nachbarn geraten, das sich in Hauterives be-
findet, einer Gemeinde mit 1720 Einwohnern im Norden des
Département Drôme: Der Idealpalast des Postboten Pferd.
Kinder, je jünger desto besser, kapieren sofort, worum es
geht. Willenlos händigt man den sogenannten Foto an das
fordernde Kleinkind aus — und wird belohnt:
An Infant’s View of facteur Cheval’s «Ideal Palace».



















© Franz Hiepko, Hauterives (2014).