Mittwoch, 27. August 2008

Der Berater-Philosoph


Aus gegebenem Anlass blätterte ich wieder einmal in dem
1963 in der von W. Hennis und R. Schnur herausgegebenen
Reihe "Politica" erschienenen Buch, das Texte von Xenophon,
Leo Strauss und Alexandre Kojève enthält und den Titel Über
Tyrannis
trägt. In
Kojèves Beitrag (Tyrannis und Weisheit),
findet sich eine Passage, die aus zweierlei Gründen meine
Aufmerksamkeit weckte:

"Der Weise, sagt [Strauss], »begnügt sich mit der Billigung
durch eine kleine Minorität«. […] Daher wird der Philosoph
seine Zuflucht zum esoterischen (vorwiegend mündlichen)
Unterricht nehmen, der ihm unter anderem erlaubt, die
»Besten« auszuwählen und den »Beschränkten« auszumerzen,
der nicht fähig ist, die versteckten Anspielungen und die
stillschweigend einbegriffenen Nebengedanken zu verstehen.
Ich muß gestehen, daß ich mich hier von Strauss und der
antiken Tradition entferne […]. Ich glaube nämlich, daß Idee
und Praxis der »intellektuellen Elite« eine sehr ernste Gefahr
einschließen, die der Philosoph als solcher um jeden Preis zu
vermeiden suchen müßte.
Die Gefahr, der sich die Bewohner der diversen »Gärten«,
»Akademien« […] und »Gelehrtenrepubliken« aussetzen,
stammt aus dem sogenannten »Cliquengeist«. Gewiß ist der
»Kreis« eine Gesellschaft und schließt den Wahnsinn aus, der
seinem Wesen nach asozial ist. Statt aber die Vorurteile
auszuschließen, strebt er dagegen danach, sie zu kultivieren
und zu züchten. […] Jede in sich geschlossene Gesellschaft,
die eine Doktrin übernimmt, jede zum Zweck des Lehrens
einer Doktrin ausgewählte »Elite« neigt dazu, die Vorurteile,
welche diese Doktrin mit sich führt, zu untermauern. Der
Philosoph, der die Vorurteile flieht, müßte also eher versuchen,
in der großen Welt zu leben (auf dem »Forum« oder »auf der
Straße« wie Sokrates) als in einem »Kreis«, gleichviel ob er
»republikanisch« oder »aristokratisch« wäre."

Zunächst sind
die Vorbehalte, die Kojève hier gegen den elitären
"Berater-Philosophen" (conseiller-philosophe) anmeldet, insofern
von Interesse, als sie sich hervorragend dazu eignen, seine Haltung
zum Problem
von Esoterik und Exoterik zu verdeutlichen. Gewiss
werden sie im Vor- oder Nachwort zum Merve-Büchlein Kunst des
Schreibens Erwähnung finden. Was jedoch meine Aufmerksamkeit
auf diese Stelle lenkte, war eine
jener von Kojève gerne strategisch
eingesetzten
Fußnoten (Vgl. die Fußnote zum Ende der Geschichte
in der Introduction à la lecture de Hegel, die ihrerseits durch eine
Note de la Seconde Édition relativiert wird, in : Überlebensformen,
Berlin 2007, S. 41-48). Und auch diesmal verweist die Fußnote auf
Kojèves Lieblingsthema: "Queneau erinnert in den »Temps modernes«
daran, daß der Philosoph wesentlich ein »Taugenichts« ist".
Bei dem
Wort Taugenichts, zumal wenn es zwischen Anführungszeichen steht,
nicht
hellhörig zu werden, fällt schwer; man konsultiert den Text des
französischen
Originals und liest: "le philosophe est essentiellement
un «voyou»."

Wenn Kojève
1954 darauf hinweist, dass es das Verdienst Raymond
Queneaus ist, uns an das wesentliche «voyou»-Sein des Philosophen

erinnert zu haben, stellt sich die Frage, ob Kojèves Figur des voyou
desœuvré
, die im Mai des Jahres 1952 in einer Queneau-Kritik das
Licht der Welt erblickte (Vgl. Überlebensformen, op. cit., S. 7-26)
und
für Giorgio Agambens Begriff der Inoperosität (inoperosità), der
Untätigkeit oder besser Untüchtigkeit von grundlegender Bedeutung
ist
(vgl. Désœuvrement vom 6. August 2008), nicht vielleicht eine
Filiation hat, die bislang übersehen, zumindest jedoch nicht weiter
verfolgt wurde.
Denn tatsächlich gibt es einen Artikel von Raymond
Queneau, der den Titel
"Philosophes et voyou" trägt und bereits im
Januar 1951
in Les Temps modernes erschienen war. Nun wird klar,
dass Kojève den "Begriff" voyou nicht deshalb in Anführungszeichen
setzt ("ces «voyous» désœuvrés"), um seinen Vorbehalten gegen das
noch sehr junge Wort (1831) mit unsicherer Etymologie Ausdruck zu
verleihen, sondern um darauf hinzuweisen, dass es schon von jemand
anderem in einem ähnlichen Zusammenhang verwendet wurde.

Mittwoch, 20. August 2008

San Giorgio degli Schiavoni


Als ich vor gut einem Jahr einen Freund in Venedig besuchte,
bürgerte sich alsbald eine rigide Tagesordnung ein, die vorsah,
dass ich nach einem gemeinsamen Kaffee
gewisse, von meinem
Freund ausgewählte Orte im Labyrinth der Gassen aufzusuchen
und sorgfältig zu untersuchen hatte. So konnte er
den Vormittag
über ungestört arbeiten.
Während des gemeinsamen Mittagessens
zählte ich jene Momente auf, die mich auf meinen Exkursionen
am tiefsten beeindruckt hatten. Jeden Mittag aufs Neue verfiel
ich in eine
Orgie detaillierter Affirmation, die beweisen sollte,
dass ich die mir gestellte Aufgabe gewissenhaft erfüllt habe. Eines
schönen Vormittags ging es nach Castello. Zuerst stattete ich Santi
Giovanni
e Paolo einen Besuch ab, dann verharrte ich, Bartolomeo
Colleoni im Rücken, staunend vor der Fassade der Scuola Grande
di San Marco
, die schon seit langem ospedale civile, öffentliches
Krankenhaus ist. Doch das eigentliche Ziel der Tagesreise lag noch
vor mir:
die Scuola di San Giorgio degli Schiavoni, die einst der
"slawonischen" Bruderschaft als Versammlungsort diente.

Wenn man sie endlich gefunden hat, versteht man, warum sie
nicht zu den Scuole Grandi gezählt wird. Erst wenn man eintritt
und sich die Augen langsam an die Dunkelheit gewöhnt haben,
begreift man, wo man sich befindet: in Carpaccios Welt. Den
haben die Dalmatiner nämlich Anfang des 16. Jahrhunderts dazu
überreden können, ihren bescheidenen Betsaal auszumalen. Sie
wünschten sich Szenen aus dem Leben ihrer Lieblingsheiligen.
Neben Georg war dies Hieronymus, da er aus Dalmatien stammte.
(
Dass man heute bei dem Wort Dalmatiner an eine spektakuläre
Hunderasse denkt und nicht an den Kirchenvater, kann insofern
als
Ironie der Geschichte verbucht werden, als sich Hieronymus
in seiner Funktion als Fundamentalist und Hassprediger einmal
dazu hinreißen ließ, Kaiser Julian postum als einen rabidus canis,
einen "tollen Hund"
[Ep. LXX] zu beschimpfen.)

Mittwoch, 13. August 2008

Was ist ein Gehäus?


Nachdem man es zunächst für einen Dürer oder Van Eyck hielt,
wird dieses Bild der National Gallery in London seit dem späten
19. Jahrhundert einhellig Antonello da Messina zugeschrieben.
Schon 1529 erwähnt Marcantonio Michiel, der das Bildchen des
hl. Hieronymus ("der in seinem Studiermöbel im Kardinalshabit

liest [el quadretto del S. Ieronimo che nel studio legge in abito
Cardinalesco]")
im Haus Antonio Pasqualinos sah, dass "manche
glauben, es sei von Antonello da Messinas Hand (alcuni credono
el sia di mano de Antonelo de Messina
)". Die Kurzbeschreibung
Michiels weiter verdichtend, hat sich im Italienischen der Titel
San Gerolamo nello studio
eingebürgert, der als St Jerome in
his Study
ins Englische übersetzt wurde.

tabernaculum, das zu einer taberna Eingerichtete, I) im allg.,
eine Hütte, Baracke, ein Zelt, Cic.: qui in una philosophia quasi
tabernaculum vitae suae collocarunt
, Cic. de or. 3, 77. II) insbes.,
in der Religionssprache, der von dem Augur vor Abhaltung der
Komitien außerhalb der Stadt zur Beobachtung der Auspicien
eingenommene Standort, das Tabernakel, die Schauhütte, capere
tabernaculum
, das T. einnehmen, wählen, recte, recht, nach
Ritualvorschrift, vitio, nicht gehörig.

Mittwoch, 6. August 2008

Désœuvrement


Schlägt man das Wort désœuvrement in einem gewöhnlichen,
halbwegs aktuellen Schulwörterbuch nach, findet man in der
Regel folgenden Eintrag:
"Untätigkeit, Nichtstun, Müßiggang".
Man stutzt. Heißt "Müßiggang" auf französisch nicht eigentlich
oisiveté. Man blättert weiter und findet dieselben deutschen
Entsprechungen wie bei désœuvrement, nur die Reihenfolge
ist eine andere: "Müßiggang, Untätigkeit, Nichtstun".


In Blanchots Werk taucht das Wort désœuvrement erstmals
1952 auf. Unter dem Titel "Mallarmé et l'éxperience littéraire"
war im Juli-Heft der Zeitschrift Critique die Rezension eines
Buches von Georges Poulet zu Raum und Zeit bei Mallarmé
erschienen, in der es heißt: "l'œuvre ne serait jamais œuvre
d'art si la recherche de son origine ne la mettait à l'épreuve
du désœuvrement de l'être...". Kunstwerk ist ein Werk erst
dann, wenn es sich auf der Suche nach seinem Ursprung am
désœuvrement des Seins erprobt hat. Ebenfalls in Critique
erscheint im November desselben Jahres die Buchbesprechung
"La mort possible",
"Der mögliche Tod". Désœuvrement dient
hier neben "der Flucht" zur näheren Charakterisierung einer
spezifischen Form von "Nachlässigkeit" (
"cette négligence,
fuite et désœuvrement perpétuels"). Die früheste Erwähnung
des Wortes, die ins Deutsche übertragen wurde, stammt aus
einem dritten Essay. Er erschien Januar 1953 in der ersten
Nummer der Nouvelle Nouvelle Revue Française unter dem
Titel "La solitude essentielle". 1959 wurde die "autorisierte
Übersetzung"
von Gerd Henninger des für L'espace littéraire
(1955) überarbeiteten Textes in der Schriftenreihe Das Neue
Lot
veröffentlicht.

"Der Schriftsteller gehört dem Werk, aber was ihm gehört, ist
nur ein Buch, eine stumme Anhäufung steriler Worte [...]. Der
Schriftsteller, der diese Leere empfindet, glaubt nur, daß das
Werk unvollendet ist, und er glaubt, daß ein wenig mehr Arbeit
und die Chance günstiger Augenblicke ihm erlauben werden,
ihm allein, es zu beenden. Er begibt sich also wieder ans Werk.
Aber was er beenden will, bleibt das Unbeendbare, verbindet
ihn einer illusorischen Arbeit. Und schließlich ignoriert ihn
das Werk, verschließt sich wieder in seine Abwesenheit, in
der unpersönlichen, anonymen Behauptung, daß es ist - und
nichts weiter. Was man durch die Bemerkung erläutert, daß
der Künstler sein Werk niemals kennt, weil er es erst in dem
Augenblick beendet, in dem er stirbt. Eine Bemerkung, die
man vielleicht umkehren muß, denn wäre der Schriftsteller
nicht tot, sobald das Werk existiert, und hat er davon nicht
manchmal ein Vorgefühl durch den Eindruck eines sehr
befremdenden Außerhalb-des-Werkes-Seins (désœuvrement)?"

"Keiner, der das Werk geschrieben hat, darf in seiner Nähe
leben und verweilen. Das Werk ist die Entscheidung, die ihn
entläßt, die ihn ausstößt, die aus ihm den Überlebenden macht,
den Außerhalb-des-Werkes-Stehenden (le désœuvré), den
Unbeschäftigten, den Kunst-losen (l'inerte), von dem die Kunst
nicht abhängt."

in L'entretien infini von 1969 "als ein Werk, in dem sich als sein
stets dezentriertes Zentrum das Nicht-am-Werk-Sein hält: das
Fehlen des Werkes." Hans-Joachim Metzger