Freitag, 27. September 2013

Pontius Pilate revisited

















 
Morgen hält Giorgio Agamben in Turin einen Vortrag über
Pontius Pilatus. Unter dem Titel Il fascino discreto di Pon-
zio Pilato (Der diskrete Charme des Pontius Pilatus“) er-
schien letzten Mittwoch in La Stampa ein Auszug dessen,
was Agamben morgen sagen wird:

Warum Pilatus? Warum hat er, der von 26 bis 36 Prokurator
von Judäa war, so gebieterisch meine Aufmerksamkeit auf
sich gezogen, mich gleichsam genötigt, über ihn nachzuden-
ken und zu schreiben und mir keine Ruhe gelassen, ehe ich
nicht, die laufende Arbeit an einem Buch unterbrechend, in
drei stürmischen Monaten jenes Büchlein geschrieben hatte,
von dem ich Ihnen erzählen möchte. Es scheint, als habe er
sich mit derselben Macht Bulgakow aufgedrängt, ihn dazu ge-
nötigt, in sein Meisterwerk ohne ersichtlichen Grund das wun-
derbare Pontius-Pilatus-Kapitel einzuschalten, das nicht von
Bulgakow, sondern vom Satan selbst erzählt wird. Sicher, sein
Name, Pontius Pilatus […], ist neben denen von Jesus und Ma-
ria der einzige Name, der im Glaubensbekenntnis auftaucht,
mit dem die Christen seit zweitausend Jahren ihren Glauben
zusammenfassen: „für uns gekreuzigt unter Pontius Pilatus“.
Warum Pilatus? Um, wie zu Recht gesagt wurde, die Historizi-

tät der Leiden Jesu zu belegen, die sich an diesem bestimmten
Tag ereigneten, eben unter Pontius Pilatus. Doch warum wird
er, ein dubioser Verweser erwähnt und nicht, wie es römischen
Gepflogenheiten entspräche, Kaiser Tiberius? Weil er nicht nur
ein Name bleibt, sondern ein Mensch aus Fleisch und Blut ist,
vielleicht sogar der einzige wirkliche Mensch in den Evangelien.
Die anderen sind entweder gewissermaßen heilige Personen wie
Johannes der Täufer und die Apostel oder treten nur für einen
Moment aus der namenlosen Menge, die Jesus umgibt, heraus,
um, wie der gute Samariter, als Beispiel oder, wie Lazarus, der
von den Toten aufersteht, als Prophezeiung zu dienen. Pilatus
aber ist in den Evangelien, insbesondere in dem des Johannes
zugleich weniger und viel mehr: ein Mensch in seinem Zaudern,
mit seinen Ängsten und Ressentiments, seinem Sarkasmus, sei-
nem Argwohn und seiner Scheinheiligkeit (wenn er sich die Hän-
de wäscht, um sich vom Blut eines Gerechten zu reinigen); ei-
ner zumal, dem wir denkwürdige Bonmots verdanken wie die
berüchtigte Erwiderung auf die Aussage Jesu, dass er für die
Wahrheit zeuge: „Was ist Wahrheit?“, oder wie der Spruch, mit
dem er die Juden, die ihn auffordern, die Inschrift des Kreuzes
zu ändern, zum Schweigen bringt: „Was ich geschrieben habe,
das habe ich geschrieben.“ Endlich ist er es, der kurz bevor er
Jesus der Hinrichtung überantwortet, die historischen Worte
spricht: „Ecce homo, Sehet, welch ein Mensch!“

Das Büchlein, das Agamben im vergangenen Sommer schrieb,
oder besser, schreiben musste, wird im Oktober 2014 in der
Reihe Fröhliche Wissenschaft bei Matthes & Seitz erscheinen.

    
    

Freitag, 6. September 2013

Der Holtrop-Effekt