Mittwoch, 31. März 2010

Philosophie der Liebe


Alexander Koschewnikoff, Die religiöse Philosophie Wladimir
Solowjews
, Berlin 1926; S. 408 des handschriftlich korrigierten
Typoskripts.

KAPITEL IV:
DIE PHILOSOPHIE DER LIEBE
1. Das Endziel der Menschheit besteht nach Solowjew bekannt-
lich in der Verwirklichung der All-einheit und in der Vereinigung
mit Gott. Das Aufzeigen der Mittel zu dieser Verwirklichung
macht den Inhalt der Ethik aus. In der "Rechtfertigung" sagt er
nun, das natürliche Geschlechtsleben sei das moralische Haupt-
übel, indem es die Einheit mit der Natur, mit den Menschen
und mit Gott vernichte. Die Umgestaltung des natürlichen Ge-
schlechtsverhältnisses zur wahren Liebe der Geschlechter zu-
einander erscheint also als die wichtigste moralische Aufgabe;
erst ihre Lösung wird die Menschheit zur Vollkommenheit brin-
gen. Dieser letzte Gedanke wird in der "Rechtfertigung" nur
angedeutet und erst in der Philosophie der Liebe deutlich aus-
gesprochen, sodass ihr Inhalt sich mit dem der Ethik völlig zu
decken scheint. In der Tat gibt die Liebesphi= [406 = 407]

losophie ein grossartiges Bild der allgemeinen Welterlösung, die
durch eine universelle Organisation der wahren Geschlechtslie-
be herbeigeführt wird; es wird ferner ausdrücklich behauptet,
dass eine wirkliche und wirksame Liebe nur als sexuelle Liebe
auftreten kann. In Ansehung dessen nun, dass die Ethik Solow-
jews eine Ethik der Liebe ist, müsste eigentlich seine Liebes-
philosophie die Ethik völlig ersetzen. Und doch ist diese Iden-
tifizierung beider Lehren nicht aufrecht zu erhalten, da die
Geschlechtsliebe mit der Liebe zu Gott und zu den Mitmen-
schen offenbar nicht gleichgesetzt werden kann, trotzdem
diese beiden Formen der Liebe für die Erreichung des End-
zieles unbedingt notwendig sind. – Insofern ist also in den Be-
hauptungen Solowjews ein ungelöster Widerspruch vorhanden.
Es scheint damit folgende Bewandtnis zu haben: Systematisch
bildet die Liebesphilosophie einen integrierenden Bestandteil
der Ethik; durch die wahre Geschlechtsliebe wird die absolute
Vereinigung der beiden Geschlechter erzielt und damit die
allgemeine Vereinigung der Menschheit vorbereitet; zugleich
wird in ihr das wahre Verhältnis zum menschlichen Leibe und
indirekt zur ganzen Natur erreicht. So bildet die Liebesphilo-
sophie eine notwendige Ergänzung der Ethik, und zwar [408]