Freitag, 27. Juni 2008

Summer Art School


Während John Haberle in der erste Hälfte der 90er Jahre des
19. Jahrhunderts
seine Mußestunden damit verbrachte, die so
genannte Seele des Junggesellen auf dessen Arbeitsplatz zu
projizieren (bei näherer Betrachtung erkennt man, dass es sich
nicht um eine Schublade handelt, sondern um die Klappe eines
Sekretärs, deren Innenseite zur Schreibunterlage wird, wenn
man sie öffnet und aufklappt), gründete William Merritt Chase
in Shinnecock auf Long Island die erste Summer Art School. Wie
es von einem Maler
, der den Prospect und den Central Park zur
natürlichen Umwelt des New Yorkers erklärt hatte, nicht anders
zu erwarten war, lag sie At the Seaside (1892).

Würden diese Kunstwerke – gemäldegerecht an den renovierten
Wänden des Museums hängend – ihre Aura entwickeln, hielte man
sie fraglos für radikale Beispiele zweier gegenläufiger Tendenzen,
die unversöhnlicher nicht sein könnten: the bureau vs. the beach.
Vielleicht würde man sich sogar fragen, welche Richtung den Sieg
davongetragen hat? Die Präsentation in Vitrinenschränken lässt
derartige Fragen gar nicht erst aufkommen. Denn sie zeigt, dass
sowohl
Haberles bartlebysche Verkriechung ins Gehäus als auch
Chase' motivische Flucht in open air in die paläontologische
Abteilung einer Naturgeschichte der Kunst gehören.

Sonntag, 22. Juni 2008

A Bachelor's Drawer


Gestern feierte KLAGE Abschied. Alle waren herzlich eingeladen
worden
– nun waren alle da und passten so gerade in ein leeres
Atelier. Paar von den Fotos und Scans, die KYRITZ fast das ganze
letzte und ziemlich genau das halbe diese Jahr in seinem Blog
ausgestellt hatte, hingen an den Wänden. NERVÖSOR hatte eine
kleine Text-Bild-Performance vorbereitet. Trotz Wirrheit hatte
er wie immer an alles gedacht. Sogar an die Zuhörenden im
Flur, denen das den Zusehenden im Atelier Gezeigte nach deren
Lacher vorgelesen wurde.

Nun war die Schublade des Junggesellen, in die wir dank Ulfs
Sesam, Sesam... die letzten anderthalb Jahre bald täglich einen
verschämten Blick werfen durften, wieder zu, die reifen Früchte
zölibatären Lebens, die in ihr zum Vorschein kamen – Verachtung,
Angst, Begeisterung, Hass, Liebe, Unsicherheit, Distanz – waren
wieder weggeschlossen. Man wird sich daran gewöhnen müssen,
dass der Spiegel, in dem sich der puer aeternus in uns gefiehl,
erblindet ist.

Mir kam John Haberles
Trompe-l'œil "A Bachelor's Drawer" in den
Sinn. Plötzlich steht man davor im Metropolitan Museum, American
Wing
. Wegen Umbauarbeiten
in der Vitrine zwischengelagert, kann
man den Inhalt der Schublade abfotographieren: rechts unten eine
Fotographie des Malers, Eintrittskarten, ein
Zeitungsausschnitt mit
einer Kunstkritik, die den Titel IT FOOLED THE CAT trägt, und die für
eine solche Schublade unabdingbare
Mariée mise à nu... Schließlich
liegt in ihrer hinteren rechten, fotographisch nicht dokumentierten
Ecke eine Broschüre, von deren illustriertem Cover einem ein Infans
stumm zulächelt. Ihr Titel verspricht in roten Lettern, der größten
Sorge des Junggesellen abzuhelfen: HOW TO NAME THE BABY.



Sonntag, 15. Juni 2008

In the Park






Detail of: William Merritt Chase, In the Park — A By-path (c. 1890)

Donnerstag, 5. Juni 2008

Bruxelles, le 4 juin 1968


Am 4. Juni 1968, also gestern vor 40 Jahren, ergriff Alexandre
Kojève in der Wirtschaftsgruppe West des Gemeinsamen Marktes,
d.h. der Europäischen Gemeinschaft ein letztes Mal das Wort:
"
Ich persönlich stehe, wie jedermann weiß, einer gemeinsamen
Wirtschaftspolitik sehr positiv gegenüber. Doch es gibt sie nicht."
Mit diesen Worten begann Kojève sein Statement, das er wenig
später wegen akuter Atemnot abbrechen musste. Er starb, ehe
die Sitzung geschlossen wurde.

In einem Interview, das am 4. Juni 2002 in La Repubblica erschienen
ist, sagte
Nina Ivanoff: "Er starb während eines […] Vortrags, wie ein
Schauspieler, der auf der Bühne stirbt. […] Ich weiß, dass seine Rede
aufgezeichnet wurde, doch ich wollte sie mir niemals anhören."
(In: Alexandre Kojève, Überlebensformen, Berlin 2007. Daraus auch,
mit freundlicher Genehmigung von Nina Kousnetzoff, das Foto
[s.o.]:
A.K. 1959 in Japan.)

BRÜSSEL 68. Die Kammerszene mit tragischem Ende, die sich in
irgendeinem Sitzungssaal während einer réunion
der Wirtschafts-
gruppe West abspielte, ist sicherlich nicht so spektakulär wie die
Straßenkämpfe von PARIS 68 oder die teach-ins von BERLIN 68.
Doch auch sie muss erinnert werden, wenn wir uns darüber klar
werden wollen, wie wir wurden, was wir sind.


"Da der Mensch ein negierendes Wesen ist, kann er unbegrenzt
über sich hinausgehen (ohne daß er Mensch zu sein aufhört,
ohne daß er ein „Über-Mensch“ werden müßte). Erst das Ende
des anthropophoren Lebewesens setzt der menschlichen Selbst-
Transzendenz eine Grenze. Darum ist der Tod des Menschen
immer gleichsam verfrüht und gewaltsam, im Gegensatz zum
„natürlichen“ Tode des Tieres oder der Pflanze, die den Kreislauf
ihrer Entwicklung beendet haben. […] Aber der Mensch hätte sich
selbst nicht negieren oder transzendieren können, wenn er nicht
[…] sterblich wäre. Die Menschlichkeit des Menschen setzt also die
Endlichkeit des Lebewesens, das ihn verkörpert, und infolgedessen
den Tod des Menschen selbst voraus. Andererseits ruft der Mensch
auch den Tod des Lebewesens hervor, indem er durch die negierende
Tat seine gegebene „Natur“ transzendiert: im äußersten Falle setzt
er ohne einen triftigen biologischen Grund sein Leben ein und läßt
sich töten. Man kann also auch sagen, daß der Mensch eine tödliche
Krankheit des Lebewesens ist."

"Der Mensch ist das einzige Wesen in der Welt, das weiß, daß es
sterben muß, und man kann sagen, daß er das Bewußtsein seines
Todes ist: wahrhaft menschliche Existenz ist existierendes Todes-
bewußtsein oder seiner selbst bewußter Tod."

Aus
dem vollständigen Text der beiden letzten Vorlesungen des
Cours 1933-1934 ("L'Idée de la mort dans la philosophie de Hegel",
Übersetzung: Iring Fetscher).