Donnerstag, 5. Juni 2008

Bruxelles, le 4 juin 1968


Am 4. Juni 1968, also gestern vor 40 Jahren, ergriff Alexandre
Kojève in der Wirtschaftsgruppe West des Gemeinsamen Marktes,
d.h. der Europäischen Gemeinschaft ein letztes Mal das Wort:
"
Ich persönlich stehe, wie jedermann weiß, einer gemeinsamen
Wirtschaftspolitik sehr positiv gegenüber. Doch es gibt sie nicht."
Mit diesen Worten begann Kojève sein Statement, das er wenig
später wegen akuter Atemnot abbrechen musste. Er starb, ehe
die Sitzung geschlossen wurde.

In einem Interview, das am 4. Juni 2002 in La Repubblica erschienen
ist, sagte
Nina Ivanoff: "Er starb während eines […] Vortrags, wie ein
Schauspieler, der auf der Bühne stirbt. […] Ich weiß, dass seine Rede
aufgezeichnet wurde, doch ich wollte sie mir niemals anhören."
(In: Alexandre Kojève, Überlebensformen, Berlin 2007. Daraus auch,
mit freundlicher Genehmigung von Nina Kousnetzoff, das Foto
[s.o.]:
A.K. 1959 in Japan.)

BRÜSSEL 68. Die Kammerszene mit tragischem Ende, die sich in
irgendeinem Sitzungssaal während einer réunion
der Wirtschafts-
gruppe West abspielte, ist sicherlich nicht so spektakulär wie die
Straßenkämpfe von PARIS 68 oder die teach-ins von BERLIN 68.
Doch auch sie muss erinnert werden, wenn wir uns darüber klar
werden wollen, wie wir wurden, was wir sind.


"Da der Mensch ein negierendes Wesen ist, kann er unbegrenzt
über sich hinausgehen (ohne daß er Mensch zu sein aufhört,
ohne daß er ein „Über-Mensch“ werden müßte). Erst das Ende
des anthropophoren Lebewesens setzt der menschlichen Selbst-
Transzendenz eine Grenze. Darum ist der Tod des Menschen
immer gleichsam verfrüht und gewaltsam, im Gegensatz zum
„natürlichen“ Tode des Tieres oder der Pflanze, die den Kreislauf
ihrer Entwicklung beendet haben. […] Aber der Mensch hätte sich
selbst nicht negieren oder transzendieren können, wenn er nicht
[…] sterblich wäre. Die Menschlichkeit des Menschen setzt also die
Endlichkeit des Lebewesens, das ihn verkörpert, und infolgedessen
den Tod des Menschen selbst voraus. Andererseits ruft der Mensch
auch den Tod des Lebewesens hervor, indem er durch die negierende
Tat seine gegebene „Natur“ transzendiert: im äußersten Falle setzt
er ohne einen triftigen biologischen Grund sein Leben ein und läßt
sich töten. Man kann also auch sagen, daß der Mensch eine tödliche
Krankheit des Lebewesens ist."

"Der Mensch ist das einzige Wesen in der Welt, das weiß, daß es
sterben muß, und man kann sagen, daß er das Bewußtsein seines
Todes ist: wahrhaft menschliche Existenz ist existierendes Todes-
bewußtsein oder seiner selbst bewußter Tod."

Aus
dem vollständigen Text der beiden letzten Vorlesungen des
Cours 1933-1934 ("L'Idée de la mort dans la philosophie de Hegel",
Übersetzung: Iring Fetscher).