Donnerstag, 30. Oktober 2008

Philosophie der Übersetzung


Wie wir sahen ist der Titel des ersten Buches von Giorgio
Agamben (Mailand, Rizzoli, 1970) die Übersetzung eines
Syntagmas, das Gottfried Benn in seinem Nietzsche-Essay
von 1950 verwendet hatte. Zumindest legt dies ein kurzer
Aufsatz des italienischen Philosophen nahe, der vier Jahre
vor der Veröffentlichung seines Erstlingswerks im November
1966 in der Zeitschrift Tempo presente erschienen war (vgl.
Der Schacht von Babel vom 18. September 2008).
Stellt man
in Rechnung, dass auch der Titel dieses Artikels (Il pozzo di
Babele
) eine Übersetzung ist (nämlich von Kafkas "Schacht
von Babel"), schöpft man den Verdacht, Agamben habe den
Walter Benjamin unterstellten Wunsch, ein Buch zu schreiben,
das nur aus Zitaten besteht, von Beginn an in die Tat umgesetzt.
Dass sich dieser Verdacht bereits auf den ersten Seiten von Der
Mensch ohne Inhalt
erhärtet, mag den sogenannten belesenen
Leser erfreuen. Dem Übersetzer wird dieses Verfahren hingegen
zum Problem. Will er die versteckten Zitate nicht rückübersetzen,
muss er entweder der belesenste aller Leser oder der virtuoseste
aller Suchmaschinenbenutzer sein, oder beides.


Schlägt man Agambens erstes Buch auf, das Giovanni Urbani, dem
Restaurator und nachmaligen Direktor des Istituto Centrale per il
Restauro in Rom "als Zeichen der Freundschaft und Dankbarkeit"
gewidmet ist, blickt man zunächst auf die Überschrift des ersten
Kapitels: La cosa più inquietante. Wie soll man sie übersetzen?
Als "Das Beunruhigendste" oder "Das Beängstigendste"? Wohl nur
mit einem gewissen Unbehagen. Glücklicherweise gibt der Autor
in diesem Fall recht eindeutige Hinweise. Denn Agamben benutzt
den Superlativ "più inquietante" auf den folgenden Seiten zweimal:
im ersten Kapitel in der Übersetzung einer Stelle des ersten Chors
der Antigone des Sophokles und ein weiteres Mal im dritten Kapitel
in einer durch Anführungszeichen als Zitat ausgewiesenen Wortfolge
(quel "più inquietante di tutti gli ospiti" che è il Nihilismo europeo).
Kennt man sich etwas mit Heidegger und Nietzsche aus, weiß man,
welche Stellen Agamben hier übersetzt: Nietzsches "unheimlichsten
aller Gäste" und Heideggers Interpretation der Antigone-Stelle ("Der
Mensch ist mit einem Wort to deinotaton, das Unheimlichste").


Donnerstag, 16. Oktober 2008

Schlucht


Oktober 2001 kam Rainald am Merve-Stand vorbei und ließ
sich mit Heidi Paris und dem Jahrzehnt der schönen Frauen,
seinem apokryphen Heute-Morgen-Annex (5.7) ablichten. Das
ist nun genau sieben Jahre her. Dann ergriff Goetz vier lange
Jahre nicht mehr öffentlich das Wort. Im Oktober 2005 ging
es langsam wieder los. Als Gast der Ö1-Radiosendung Von Tag
zu Tag
sagte er: "Als Schriftmann will ich hier vor allem Fragen
stellen, zum Beispiel: Institutionenkunde, Architektur, Körper
im Raum, physiognomische Betrachtungen... Untersuchungen
am lebenden Objekt, vorwiegend während es spricht... auch
während es zuhört...".

Kurz zuvor war in Cicero die rätselhafte Houellebecq-Rezension
"Das Elend der Liebe" erschienen, die angenehm entmutigend
vor dem "Berliner Kaufhaus Lafayette" ausklingt: "Draußen ist
es inzwischen fast schon dunkel geworden. Der Herbst kommt.
Eine kleine asiatische Frau wird in Handschellen, mit auf den
Rücken gefesselten Händen, von zwei Polizisten über die Straße
zum Streifenwagen geführt. Sie hat ihr Gesicht nach hinten
gedreht, fragend. Der Freie darf sein Rad aufsperren, er setzt
sich darauf und radelt los. So radelte er hin."

Tschüss Büchner! Lenz hat jetzt ein Fahrrad, mit dem er dann
ab Februar 2007 zu VANITY geradelt sein wird, um als Schrift-
mann den Schriftmenschen schreibend beizustehn. Seit Juni
diesen Jahres fehlt uns bekanntlich dieser Beistand. Dafür liegt
klage jetzt als Buch vor. Der Winter ist gerettet. Während sich
das Biedermeier-Feuilleton bei Dresdner Christstollen an Uwe
Tellkamps Turm wärmt,
beugen sich die Schriftmenschen über
die ersten 450 Seiten Schlucht und verzeichnen am Rand die
Varianten aus den von ihnen gespeicherten Posts. Mit etwas
Glück könnte eine kritische Ausgabe von klage vorliegen, ehe
Buch 6 abgeschlossen ist.

DER NEUZEITLICHE MENSCH
steht in der Irre

Donnerstag, 9. Oktober 2008

Presentimenti


Vgl. A Bachelor's Drawer vom 22. Juni 2008.

Mitte Juni 2008, New Yorks früheste Hitzewelle ging gerade
mit Rekordwerten ihrem Ende entgegen.
Folge der extremen
Temperaturen: die Leute in Manhatten waren alle bisschen
nachlässiger gekleidet.
Socken bekam man nur selten zu sehen,
dafür Shorts, kurzärmlige Hemden, Asiaschlappen so weit das
Auge reichte. Schöner Nebeneffekt der drückenden Hitze:
die
Empfänglichkeit für das, was um einen herum vorging, wuchs.
Weniger schön:
ein Text, der nicht rechtzeitig fertig geworden
war, mußte in versendbare Form gebracht werden (In Wahrheit
war ich/Nie verreist/Wie das
Protokoll/Beweist). Als er dann
die Bleibe in Chelsea verlassen hatte, fiel ein Stein vom Herzen.
Endlich ging es ins Offene - manchmal auch ins Museum.

Donnerstag, 2. Oktober 2008

Zitierfreude


Januar 94 feierte Heiner Müller seinen 65. Geburtstag mit einem
Pasoliniabend im Berliner Ensemble. Auf dem Programm standen
La Ricotta, der Beitrag des italienischen Regisseurs zu RoGoPaG,
einer Kurzfilmanthologie von 1963, und die Lesung einer Auswahl
aus seinen Gedichten.
Laura Betti, die in Pasolinis Film eine der
"Diven" spielt, war eingeflogen worden, um sie hingebungsvoll zu
rezitieren. Auf seine unnachahmliche Art
, in einer Mischung aus
Nuscheln und Bellen
, trug Müller deren deutsche Übersetzung vor.
Ob auch Io sono una forza del Passato / Solo nella tradizione è il
mio
amore... ("Ich bin eine Kraft der Vergangenheit / Einzig der
Überlieferung gilt meine Liebe") dabei war, also jenes Gedicht,
das Orson Welles in der Rolle eines Regisseurs scheinbar vorträgt
(gesprochen wird der Text von Giorgio Bassani), habe ich vergessen.
Ehrlich gesagt, konnte ich mich gar nicht mehr daran erinnern, daß
Gedichte von Pasolini vorgetragen wurden. Es war der wunderliche
Kurzfilm, der mir im Gedächtnis blieb.


RoGoPaG stand für die vier Regessieure, die an dem Episodenfilm
beteiligt waren: Rossellini, Godard, Pasolini und Gregoretti. Sein
alternativer Titel lautet: Laviamoci il cervello, "Waschen wir uns
das Gehirn!" Bevor mit Rossellinis Illibatezza (Jungfräulichkeit,
Keuschheit, Unversehrtheit), einem Capriccio über Stewardessen,
Fernreisen und Super8
die erste Episode beginnt, erklärt ein Text:
"Vier Erzählungen von vier Autoren, die sich darauf beschränken,
von den heiteren Vorboten des Weltuntergangs zu berichten."

Die Gedichte von "Mamma Roma", Gedicht vom 13. Mai 1962:
Il popolo più analfabeta / e la borghesia più ignorante del mondo.
10. Juni 1962:
Io sono una forza del Passato.
Solo nella tradizione è il mio amore.
Vengo dai ruderi, dalle Chiese,
dalle pale d’altare, dai borghi
dimenticati sugli Appennini o le Prealpi,
dove sono vissuti i fratelli.
Giro per la Tuscolana come un pazzo,
per l’Appia come un cane senza padrone.
O guardo i crepuscoli, le mattine
su Roma, sulla Ciociaria, sul mondo,
come i primi atti della Dopostoria,
cui io assisto, per privilegio d’anagrafe,
dall’orlo estremo di qualche età
sepolta. Mostruoso è chi è nato
dalle viscere di una donna morta.
E io, feto adulto, mi aggiro
più moderno d'ogni moderno
a cercare i fratelli che non sono più.