Sonntag, 3. Januar 2010

Ultimative Engelkunde


Für klaustrophil veranlagte Menschen, denen es ein Graus
ist, Teil großer Menschenmengen zu sein, ist der Himmel
eine denkbar doofe destination. Denn
die Fanmeile Gottes
ist einem Spruch des Propheten zufolge hoffnungslos über-
füllt: »Der Himmel
knirscht, denn in ihm ist kein Fußbreit,
der nicht von einem sich verbeugenden oder knienden Engel
besetzt wäre«. Aber auch jenen, die das Bad in der Menge
nicht scheuen, sei geraten, die Wahl ihres letzten Reiseziels
nicht leichtfertig zu treffen. Anders als uns Wim Wenders’
Himmel über Berlin weismachen will, sind Engel nämlich
alles andere als harmlos. Dass sie wahlweise dem lautlosen
Lesen beflissener Nutzer öffentlicher Bibliotheken lauschen,
sich in Trapezkünstlerinnen verlieben oder liebenswürdige
Detektive in amerikanischen Krimiserien spielen, ist eher
die Ausnahme. In der Regel mischen sie sich permanent in
die Angelegenheiten der Menschen ein: als Ökonomen des
Heils, Führer der Menschen und Lenker der Welt. Gibt es
eine Möglichkeit, sich dieser impertinenten Beamten des
Himmels zu entledigen?


Die Ausschaltung, die Unschädlichmachung der Engel setzt
voraus, dass man sich mit ihrer Funktionsweise vertraut ge-
macht hat. Was bislang einer mühsamen Recherche bedurfte,
ist nun wesentlich erleichtert worden: dank einer monumen-
talen Kompilation angelologischer Texte, die vor paar Tagen
in Italien erschienen ist. (Die Angaben zum Umfang des Wer-
kes sind widersprüchlich. Sie schwanken zwischen 2010 und
2048 Seiten.) Der von Giorgio Agamben und Emanuele Coccia
herausgegebene und eingeleitete Band trägt den schlichten
Titel
Angeli. Ebraismo Cristianesimo Islam (Engel. Judentum
Christentum Islam) und kostet 70 Euro. Am 27. November des
vergangenen Jahres veröffentlichte La Reppublica Auszüge aus
der Einleitung der Herausgeber. Hier deren Übersetzung:

„Vielleicht ist in der Moderne über keinen anderen Gegenstand
mehr und zugleich mit weniger Scharfsinn geschrieben worden
als über die Engel. Ihre zugleich strahlende und erschöpfte, ge-
dankenverlorene und effiziente Gestalt ist über die Gebete und
alltäglichen Kulte des Abendlandes hinaus nicht nur in die Philo-
sophie, Literatur, Malerei und Bildhauerei, sondern auch in die
Tagträume, in Subkultur und Kitsch so tief eingedrungen, dass
es ausgeschlossen scheint, sich ein annähernd stimmiges Bild
des Themas zu machen. Und auch wenn im 20. Jahrhundert der
Engel in den Elegien Rilkes und der Malerei Klees, in den Thesen
Benjamins und der Gnosis Corbins mit aller Macht wiederkehrt,
erscheint uns heute sein Gebaren nicht weniger rätselhaft als
das der Seraphim, die in der hetoimasia tou thronou der früh-
christlichen und byzantinischen Basiliken schweigend den leeren
Thron der Herrlichkeit hüten. Schlägt man jedoch die patristi-
schen und scholastischen Traktate über Engel auf, stellt sich die
Lage völlig anders dar. Hier hat die Angelologie ihren Ort in der
Ökonomie der göttlichen Weltregierung, deren Minister die Engel
sind. Nicht nur, dass die ausführlichste Behandlung, die Thomas
der Angelologie widmet, einen integralen Bestandteil jenes Ab-
schnitts der Summa theologica bildet, der die Lenkung der Welt
behandelt, auch die Rangbezeichnungen der Engelshierarchie
sind seit jeher in weiten Teilen mit der Terminologie der Macht
identisch: »Herrschaften, Obrigkeiten, Mächte, Throne«; nicht
nur, dass der Traktat des Pseudo-Dionysius den Titel Von der
himmlischen heiligen Herrschaft (dies ist die ursprüngliche Be-
deutung des Wortes »Hierarchie«) trägt, die Hierarchien der
irdischen, sowohl kirchlichen wie weltlichen Herrschaft sind
eine genaue Imitation der englischen. Selbst die Terminologie
der modernen öffentlichen Verwaltung