Samstag, 31. Oktober 2015

Aiōnios zōē

















 
HALLELUJA! Kaum zu glauben, dass sich zur Einstimmung
aufs HEILIGE Jahr der BARMHERZIGKEIT, das am 8. Dezem-
ber 2015, dem Fest der Unbefleckten Empfängnis Mariens,
an dem sich das Ende des 2. Vatikanischen Konzils zum 50.
Mal jährt, der Geist ausgerechnet in Deutschland hinein er-
gießt. Der Berliner Romantiker von Lowtzow, der 2011 im
Duett mit Michaela Meise seine Klopstock-kontaminierte
Konversion vollzog, kann es kaum fassen: Während der off-
spring des protestantischen Pfarrhauses vorm Kanzleramt
Gräber aushebt, öffnen sich die Münchner am Münchner
Hauptbahnhof. Freilich nicht alle: Doch schon Tyconius
wusste, dass die eine Kirche zweigeteilt ist, eine helle und
eine finstre, niederträchtige Seite hat.

So exorbitant war dieser Erguss, dass er bis in die vermau-
ertsten Bereiche des deutschen Kulturprotestantismus vor-
drang. Die Klassenkonferenz der Studienräte spielt Görres-
gesellschaft: Rainald Goetz bekommt den Büchner-, Frank
Witzel den Buchpreis zugespochen. Zwei idealtypische Ge-
stalten des deutschen Katholizismus: der verhockte, von
der katholischen Tugend GEDULD tief durchdrungene Dias-
pora-Katholik und Herz-Jesu-Ministrant Witzel und der im
mainland des Katholizismus sozialisierte Goetz, den er —
vergeblich — mit manischer Luhmannlektüre zu exorzieren
versucht. Konfessionslos sind Wiesbadener Geständniszwang
und Münchner Bekenntnisdrang jedenfalls nicht.

Freitag, 16. Oktober 2015

已然 / 未然


















In Schanghai ist es jetzt vier Uhr nachmittags. Die victims
und addicts der Mode müssen noch bisschen Zeit totschla-
gen bis zum Cocktail, mit dem No Longer/Not yet im Min-
sheng Art Museum eröffnet wird. Chefdesigner Alessandro
Michele und Katie Grand, Editorin des Magazins LOVE, ha-
ben die Ausstellung für GUCCI kuratiert. Es geht um die
Frage, wie das Unzeitgemäße mit dem Zeitgenössischen
zusammenhängt. Darüber nachgedacht haben die chinesi-
sche Multimediakünstlerin Cao Fei, die Installationskünst-
lerin Rachel Feinstein, die Neokonzeptualistin Jenny Hol-
zer, die britischen Fotographen Glen Luchford und Nigel
Shafran, der britische Musiker und Musikproduzent Steve
Mackey, die chinesische Op-Art-Künstlerin Li Shurui und
die britische Künstlerin und Illustratorin Helen Downie
alias Unskilled Worker.   

Dienstag, 6. Oktober 2015

Ist das Kommende kommod?


















Vor ziemlich genau neun Jahren, vier Jahre nach Heidi
Paris’ Tod, schrieb Rainald Goetz seine „eigene, allge-
meine Programmschrift gegen die Verzweiflung“. Ein
halbes Jahr später gab es das Weblog KLAGE auf der
Homepage des deutschen Ablegers von Vanity Fair. Es
war ein tolles Jahr, 2007: Handkes KALI, Goetz’ KLAGE,
Tocotronics KAPITULATION…

Goetz schrieb täglich, der Sonntag war in der Regel Ru-
hetag. Titel, Text und Bild standen für sich. Anfangs
hatten auch die Bilder Titel: Meer mit wild besonnten
Wolken (3. April, siehe oben). Der Titel des Textes: Die
Verstümmelten. Mit Herrmann Ungars gleichnamigen
Roman („Frau Porges meinte, es sei ein Geschäft, das
einem Mann nicht anstehe. Polzer aber wusste, wie an-
genehm und erfrischend es sei, des Morgens verläßlich
geputzte Schuhe an den Füßen zu haben, und zugleich,
daß diese Tätigkeit keineswegs etwas Unmännliches an
sich haben könne, da doch überall, wo Diener im Hause
seien, wie in Hotels und bei reichen Leuten, dieses Ge-
schäft von Männern besorgt würde.“) hatte Goetz’ Text
nichts zu tun. Er war ein antienkomiastisches Manifest:  

Missbehagen wegen Lob, Textwidrigkeit von Lob, Sozi-
alterrorismus mit Lob, Aggressivität und Destruktivi-
tät von Lob. […] Das stricherhaft Abgefuckte des Lo-
bens, Lobnutten, Lobtrottel, Trottelkartelle gegensei-
tigen Lobens […] Am extremsten hat den Weg dieser
Art von Kaputtheit und Verblödung die dahingegange-
ne Springer-Zeitschrift DER FREUND begangen. Ob man
als Autor von Elke Heidenreich mit Lob niedergestampft
wird oder vom Schleimemphatiker Volker Weidermann,
ist nur ein gradueller Unterschied an Scheußlichkeit. 

Bemerkenswert ist nicht der „schimpfende Stil“, dessen
meisterliche Beherrschung bei Goetz nicht überrascht,
sondern die diagnostische Intuition, die Weidermann in
derselben Anstalt enden sieht wie Heidenreich: der öf-
fentlich-rechtlichen. Einmal erworben scheint man sich
auf den anatomisch-klinischen Blick verlassen zu können.
Schöner Nebeneffekt: „Schleimemphatiker“ Weidermann
bewies 2012, dass er nachtragend ist und durchaus auch
anders kann: Am 1. September — eine Woche vor Ablauf
der Sperrfrist — konnte Goetz in der FAS in Weidermanns 
Johann Holtrop-Verriss lesen, dass „er so etwas wie der
grantelnde, tourettehaft vor sich hinschimpfende Dorf-
schreiber von Berlin-Mitte geworden“ sei.