Donnerstag, 25. September 2008

commentator


An entlegener Stelle, namentlich als Vorwort zu einem Buch
Emanuele Coccias, des letzten Averroisten, kommentiert Giorgio
Agamben die schöne Bonaventurastelle von den vier Arten, ein
Buch zu machen. Wir erinnern uns: "... quadruplex est modus
faciendi librum
. Wer Fremdes schreibt, ohne etwas hinzuzufügen,
ist ein Schreiber (scriptor). Wer Fremdes schreibt und etwas
hinzufügt, das nicht von ihm selbst stammt, ist ein Kompilator
(compilator). Wer hauptsächlich Fremdes schreibt und Eigenes
zur Erklärung hinzufügt, heißt Kommentator (commentator). Wer
Eigenes und Fremdes schreibt, wobei das Eigene die Hauptsache
ist und das Fremde zur Bekräftigung hinzugefügt wird, ist ein Autor
(auctor)."

Donnerstag, 18. September 2008

Der Schacht von Babel


Als die Einstürzenden Neubauten 1996 ihren Schacht von Babel
gruben, mit edlen Hölzern verschalten und selbst den Strom für
das Licht drin verlegten, war es genau dreißig Jahre her, dass
Giorgio Agamben seinen gegraben hatte: in Form eines Artikels
für die Zeitschrift Tempo Presente. In dieser Zeitschrift, die wie
Der Monat in Deutschland, Preuves in Frankreich oder Encounter
in Großbritannien vom 1950 im Titania-Palast in Berlin-Steglitz
gegründeten Kongress für kulturelle Freiheit mit CIA-Geldern
subventioniert wurde, waren 1966 von dem, wie es in der Rubrik
"Anmerkungen zu den Mitarbeitern dieses Hefts" heißt, "jungen
Forscher auf dem Gebiet der französischen Literatur", der schon
Artikel in Il Mondo veröffentlicht habe und hoffe, in Kürze seine
"Baudelaire-Studie" abschließen zu können, drei in inhaltlichem
Zusammenhang stehende Beiträge erschienen: "Der 121. Tag von
Sodom und Gomorrha", "Fabel und Fatum" und "Der Schacht von
Babel".

Agambens Werk hätte sich selbstredend auch ohne diese suspekte
Anschubfinanzierung irgendwie Bahn gebrochen, dem
Übersetzer
und
Exegeten beantwortet die so entstandene Artikelserie jedoch
einige Fragen, die sich im Zusammenhang mit dem ersten Buch des
italienischen Künstler-Philosophen stellen. Zunächst drängt sich die
Frage auf, wie der Titel des 1970 erschienenen Buches angemessen
zu übersetzen wäre: L'uomo senza contenuto. Soll man ihn Wort für
Wort übersetzen? Der Mensch ohne Inhalt? Die Frage der Richtigkeit
oder Angemessenheit einer Übersetzung, die in der Regel lediglich
eine Geschmacksfrage ist, kann in diesem Fall unmissverständlich
beantwortet werden. In Il pozzo di Babele (Der Schacht von Babel)
findet sich nämlich eine Stelle, die den entscheidenden Hinweis gibt:


"Was mit [Artaud] untergeht, ist der Feder-Mensch (l'uomo-penna), der
vierte Mensch, von dem Benn in seinem Essay über Nietzsche spricht,
der Mensch, der seinen Inhalt verloren hat (l'uomo che ha perduto il
suo contenuto
) und nur noch den Form- und Ausdrucksprinzipien lebt."

In Benns Radio-Essay Nietzsche – nach fünfzig Jahren, der am 25. Aug.
1950 vom Nordwestdeutschen Rundfunk gesendet wurde,
steht die von
Agamben übersetzte Passage in folgendem Kontext:

"Nietzsche, sehen wir heute, inaugurierte den »vierten Menschen«,
von dem man jetzt so viel spricht, den Menschen mit dem »Verlust
der Mitte« [...]. Der Mensch ohne moralischen und philosophischen
Inhalt, der den Form- und Ausdrucksprinzipien lebt. Es ist ein Irrtum,
anzunehmen, der Mensch habe noch einen Inhalt oder müsse einen
haben. Der Mensch hat Nahrungssorgen, Familiensorgen, Fortkommen-
sorgen, Ehrgeiz, Neurosen, aber das ist kein Inhalt im metaphysischen
Sinne mehr. [...]
Der beschwörende Mensch ist nicht mehr da. Es ist
überhaupt kein Mensch mehr da, nur noch seine Symptome."

An dieser Stelle entfaltet Benn allerdings nur eine Diagnose, die er
kurz zuvor auf die konzisere Formel gebracht hatte, Nietzsche sei
"»der vierte Mensch«, von dem man jetzt soviel spricht, der Mensch
ohne Inhalt, der die Grundlagen der Ausdruckswelt schuf." Dieser, aus
philologischer Sicht sehr schöne Befund ("der Mensch ohne Inhalt"),
wirft nun aber grundsätzlichere Fragen auf. Ist es überhaupt statthaft,
den Titel von Agambens erstem Buch, mit dem Hinweis, es handle
sich um die Übersetzung eines Bennschen Syntagmas, nicht eigentlich
zu übersetzen, sondern rückzuübertragen? Ist das nicht Verrat an der
Aufgabe des Übersetzers? Hat sich nicht die Entscheidung, Agambens
Prägung "nuda vita" - trotz der nicht zu
übersehenden Bezugnahme auf
Walter Benjamins "bloßes Leben" – mit "nacktes Leben" zu übersetzen,
als richtig erwiesen? Doch wäre es ein Gewinn, wenn man
Il pozzo di
Babele –
anstatt ihn in Kafkas Schacht von Babel rückzuübertragen –
mit Babylons
Brunnen oder Die babylonische Höhle übersetzen würde?


Donnerstag, 11. September 2008

Pet Obedience School


"Der Kirchenlehrer Hieronymus [...] war in alle dogmatischen
Händel um die Wende zum 5. Jahrhundert verwickelt. Obwohl
er Rhetorik studiert hatte, zog ihn sein asketischer Eifer immer
wieder in die Wüste zu längerem Schweigen. Allerdings kehrte
er regelmäßig mit Geschriebenem in großer Menge zurück. Diese
Besonderheit seiner asketischen Strenge hat ihre Bildhaftigkeit
in der Konfiguration des »Hieronymus im Gehäus« gefunden: der
schreibende Eremit mit dem Wüstenlöwen als von Frömmigkeit
angestecktem Haustier." Mit diesen Worten beginnt ein kurzer
Kommentar Hans Blumenbergs zu einer Stelle bei Ernst Jünger.
Im Sanduhrbuch hatte der einmal
, Dürers Kupferstich vor Augen,
die rhetorische Frage gestellt: "Wer möchte nicht teilhaben an
dieser Stille, inmitten der warmen hölzernen Täfelung, während
[...] vor dem Pult ein Löwe träumt, den man sich auch durch eine
Katze ersetzen kann?"


Blumenberg hatte sich über "die Harmlosigkeit des Löwen auf
Tafeln und Holzschnitten" schon immer geärgert. Dass Jünger
nun den Löwen durch einen "angeheimelten Feliden" ersetzt,
geht ihm jedoch entschieden zu weit. Ein gezähmtes Raubtier,
das die "Eremitagewache übernahm, damit der Theologe nicht
von Raubzeug gestört werde", würde Blumenberg ja noch gelten
lassen, doch eine Katze in der Studierstube, das riecht ihm zu
sehr nach "bürgerlicher Idylle". Eine genauere Betrachtung von
Antonello da Messinas Hieronymus, dessen Arbeitsplatz man nur
schwerlich als "bürgerliche Idylle" bezeichnen wird, zeigt aber,
dass auch
in vorbürgerlichen Zeiten das nutzlose Haustier bei
Gelehrten durchaus im Trend lag: zwar geistert der Wüstenlöwe
noch durch das Kirchenschiff, der Zugang zum Lese-Gestell bleibt
jedoch "angeheimelten Feliden" vorbehalten (siehe oben; für den
Löwen vgl. Was ist ein Gehäus? vom 13. August 2008).

PS. Besonders rätselhaft ist Blumenbergs Deutung des von Dürer
"neben den schlafenden Löwen gelegten ebenso schlafenden Haus-
hündchens". Daß der Erfinder der Metaphorologie dieses Hündchen
nicht, wie es mit Blick auf den Übersetzer Hieronymus nahe läge,
als Symbol der Treue interpretiert, sondern als unverzichtbaren
Bestandteil "einer bürgerlichen Idylle", ist nur schwer nachzuvoll-
ziehen. Selbst das gefügige Hündchen, das Carpaccio in die Zelle
des Augustinus setzt, hat ja mit "Bürgerlichkeit"
nichts zu tun. Es
repräsentiert vielmehr als nutzloses Haustier nichts anderes als
bedingungslose Regierbarkeit, ohne die es keine oikonomia Gottes
geben könnte.



Donnerstag, 4. September 2008

Philosophes et voyous


"Les voyous vont disparaître, die Voyous werden verschwinden"
hatte der damalige Innenminister Nicolas Sarkozy Mitte Juni
2005 vor laufender Kamera erklärt. In der Nacht zum achten
November desselben Jahres rief er den Ausnahmezustand aus.
Auf Grundlage des Notstandsgesetzes von 1955 konnten nun
Ausgangssperren in den betroffenen Vorstädten angeordnet
werden. Auch Derridas Dekonstruktion
(Voyous, Paris 2003)
des strategischen Begriffs état voyou (das heißt der offiziellen
französischen Übersetzung des amerikanischen Kampfbegriffs
rogue state
, Schurkenstaat) hatte daran nichts ändern können.

Angesichts der Entwicklung, die das gerade einmal 180 Jahre
alte Wort voyou in den letzten Jahren genommen hat, stellt sich
die Frage, was Queneau
dazu bewogen haben mag, es mit einem
der ehrwürdigsten Worte des Abendlands
zusammenzustellen.