Samstag, 29. März 2014

Konsumterroristen vs. Nerd


















Als Rainald Goetz am 24. Mai 1972 seinen 18. Geburtstag
feierte, wurde er zwar nicht volljährig, in Erinnerung ge-
blieben sein wird er ihm trotzdem. Denn um 18.10 Uhr
detonierten vor dem Kasernenblock 28 und dem Kasino
des Europa-Hauptquartiers der US-Armee in Heidelberg
zwei Autobomben: Drei GIs starben, fünf wurden verletzt.
Anders als Marx es sich hätte träumen lassen, folgte 1972
die lumpige Farce der Tragödie auf den Fuß. Schon im Mai
travestierte die Frühjahrsoffensive der Konsumterroristen
der RAF die Offensive der nordvietnamesischen Armee von
Ende März. Ledigich die Utensilien wurden ausgetauscht: 
an die Stelle der gummibesohlten Sandale trat ein anderer
Jungstraum: der Sportwagen.

Um den Vormarsch der vietnamesischen Armee zu stoppen,
setzte das amerikanische Militär erstmals auf den massiven
Einsatz von laser- und tv-guided bombs. Die smart bomb 
des deutschen war on terror hieß Horst Herold. Der hatte,
als er noch nicht Präsident des BKA, sondern bloß der Nürn-
berger Polizei war, in einem Beitrag für das Taschenbuch
für Kriminalisten von 1968, der die Vorteile der elektroni-
schen Datenverarbeitung für die Polizeiarbeit herauszuar-
beiten versuchte und den vielversprechenden Untertitel
„Versuch eines Zukunftsmodells“ trug, prophezeit:

Ausgehend davon, daß gleichsam „das maschinelle Sein das
polizeiliche Bewußtsein bestimmt“, stellt sich die Aufgabe,
vor jedem Versuch einer Lösung von Problemen auf Grund
des bestehenden Istzustandes, eine Art Soll-Vorstellung der
elektronischen Datenverarbeitung im Polizeibereich als ge-
schlossenes organisatorisches Ganzes zu entwickeln, eine
Aufgabe, die sich wegen des Fehlens von herkömmlichen
Vorbildern an Bestehendem nicht anlehnen kann und daher
weithin nach vorne in das Unbekannte hineingedacht wer-
den muß.

Montag, 24. März 2014

Ökotourismus


















Take nothing but pictures, leave nothing but footprints.

Samstag, 15. März 2014

Heidegger, Gagarin und wir


















Die Technik ist gefährlich. Sie bedroht nicht nur die Identi-
tät der Person. Sie läuft Gefahr, den Planeten zu sprengen.
Aber die Feinde der Industriegesellschaft sind meistens
Reaktionäre. Sie vergessen oder verabscheuen die großen
Hoffnungen unserer Zeit. Denn noch nie war der Glaube an
die Befreiung des Menschen […] stärker. Er beruht nicht auf
den Erleichterungen, die die Maschinen und die neuen Ener-
giequellen dem kindlichen Geschwindigkeitstrieb bieten; er
beruht nicht auf dem schönen mechanischen Spielzeug, das
die ewige Kindlichkeit der Erwachsenen in Versuchung führt.
Er hängt nur mit der Erschütterung der sesshaften Zivilisatio-
nen zusammen, mit dem Abbröckeln der lastenden Schwere
der Vergangenheit, mit dem Verblassen des Lokalkolorits, mit
den Rissen, die alle diesen sperrigen und beschränkten Dinge
bekommen, an die sich die menschlichen Partikularismen an-
lehnen. Man muss unterentwickelt sein, um sie als Daseins-
gründe zu beanspruchen und in ihrem Namen um einen Platz
in der modernen Welt zu kämpfen. Die Entwickung der Tech-
nik ist nicht die Ursache – sie ist bereits die Wirkung dieser
Entleerung der menschlichen Substanz, die sich ihrer nächt-
lichen Schwere entledigt.

Ich denke an eine einflussreiche Strömung des modernen Den-
kens, die in Deutschland entstand und die heidnischen Schlupf-
winkel unserer abendländischen Seele überschwemmt. Ich den-
ke an Heidegger und die Heideggerianer. Man möchte, dass der
Mensch die Welt wiederfinde. Die Menschen hätten die Welt
verloren. Sie kennen angeblich nur die vor sie gestellte, in ge-
wisser Weise ihrer Freiheit entgegenstehende Materie, sie ken-
nen nur Gegenstände.

Die Welt wiederfinden heißt eine auf geheimnisvolle Weise in
einem Ort zusammengekauerte Kindheit wiederfinden, sich
dem Licht der großen Landschaften, der Faszination der Natur,
den majestätisch hingelagerten Bergen öffnen; es heißt einen
Pfad benutzen, der sich durch die Felder schlängelt; es heißt
die Einheit spüren, das Helldunkel der Wälder, das Geheimnis
der Dinge, eines Krugs, der abgetretenen Schuhe einer Bäuerin,
das Funkeln einer Weinkaraffe auf einem weißen Tischtuch. Das
Sein des Realen selbst würde sich hinter diesen priviligierten
Erfahrungen zeigen, sich der Obhut des Menschen anvertrauend.
[…] Da haben wir sie also, die ewige Verführung des Heidentums,
jenseits der Infantilität des seit langem überwundenen Götzen-
diensts. Das Heilige, das durch die Welt hindurchscheint […].
Das Geheimnis der Dinge ist die Quelle jeder Grausamkeit gegen
den Menschen. Das Eingepflanztsein in eine Landschaft, die Ver-
bundenheit mit dem Ort, ohne den das Universum bedeutungs-
los würde und kaum existierte — eben dies ist die Spaltung der
Menschheit in Einheimische und Fremde. Und in dieser Perspek-
tive ist die Technik weniger gefährlich als die Geister des Orts.



















Die Technik beseitigt das Privileg dieser Verwurzelung und des
Exils, das sich darauf beruft. Sie befreit von dieser Alternative.
Es geht nicht darum, zum Nomadentum zurückzukehren, das
ebenso unfähig ist wie das sesshafte Leben, einer Landschaft
und einem Klima zu entrinnen. Die Technik entreißt uns dieser
Heidegger’schen Welt und dem Aberglauben des Orts. Von nun
an zeigt sich eine Chance: die Menschen außerhalb der Situation
wahrzunehmen, in der sie sich vorübergehend aufhalten, das
menschliche Antlitz in seiner Nacktheit aufleuchten zu lassen.
Sokrates zog der Landschaft und den Bäumen die Stadt vor, wo
man den Menschen begegnet. Das Judentum ist ein Bruder der
sokratischen Botschaft.

Bewundernswert an Gagarins Großtat ist gewiss nicht seine gran-
diose Nummer im Lunapark, die die Massen beeindruckt; nicht die
sportliche Leistung, die anderen zu überflügeln, alle Höhen- und
Geschwindigkeitsrekorde zu brechen. […] Was vielleicht mehr als
alles andere zählt, ist die Tatsache, den Ort verlassen zu haben.
Eine Stunde hat ein Mensch außerhalb jedes Horizonts existiert —
alles um ihn herum war Himmel, oder genauer, alles war geome-
trischer Raum. Ein Mensch existiert im Absoluten des homogenen
Raums.

Emmanuel Lévinas, „Heidegger, Gagarine et nous“, in: Information 
juive, Nr. 131, Juni-Juli 1961, a. d. Franz. v. Eva Moldenhauer.  

Sonntag, 2. März 2014

Der Maler des modernen Lebens


















Pendant dix ans, j’ai désiré faire la connaissance de M. G.,
qui est, par nature, très voyageur et très cosmopolite. Je
savais qu’il avait été longtemps attaché à un journal anglais
illustré, et qu’on y avait publié des gravures d’après ses cro-
quis de voyage (Espagne, Turquie, Crimée). J’ai vu depuis
lors une masse considérable de ces dessins improvisés sur les
lieux mêmes, et j’ai pu lire ainsi un compte rendu minutieux
et journalier de la campagne de Crimée, bien préférable à
tout autre. Le même journal avait aussi publié, toujours sans
signature, de nombreuses compositions du même auteur, d’a-
près les ballets et les opéras nouveaux.


















Constantin Guys, Bataille de Balaklava, 25 octobre 1854.

Lorsque enfin je le trouvai, je vis tout d’abord que je n’avais
pas affaire précisément à un artiste, mais plutôt à un homme
du monde. Entendez ici, je vous prie, le mot artiste dans un
sens très restreint, et le mot homme du monde dans un sens
très étendu. Homme du monde, c’est-à-dire homme du monde
entier, homme qui comprend le monde et les raisons mystéri-
euses et légitimes de tous ses usages; artiste, c’est-à-dire spé-
cialiste, homme attaché à sa palette comme le serf à la glèbe.
M. G. n’aime pas être appelé artiste. N’a-t-il pas un peu rai-
son? Il s’intéresse au monde entier; il veut savoir, comprendre,
apprécier tout ce qui se passe à la surface de notre sphéroïde.


















Constantin Guys, Blessés turcs, janvier 1855.

L’artiste vit très peu, ou même pas du tout, dans le monde
moral et politique. Celui qui habite dans le quartier Breda
ignore ce qui se passe dans le faubourg Saint-Germain. Sauf
deux ou trois exceptions qu’il est inutile de nommer, la plu-
part des artistes sont, il faut bien le dire, des brutes très
adroites, de purs manœuvres, des intelligences de village,
des cervelles de hameau. Leur conversation, forcément bor-
née à un cercle très étroit, devient très vite insupportable à
l’homme du monde, au citoyen spirituel de l’univers.

Charles Baudelaire (1863)