Donnerstag, 29. Mai 2008

Alexandre Kojève


Cimetière d'Evere, der größte Friedhof Brüssels: Hier liegt
der herzlose Corpus Jacques Louis Davids, des Malers der
Großen Revolution, der schon zu Lebzeiten recht herzlos
gewesen sein soll.
Auch Alexandre Kojevnikoff ist hier 1968
begraben worden.

Ob jemand, für den die Schlacht von Jena das Ende der
Geschichte bedeutete, u
nweit des Ehrenmals der bei Waterloo
gefallenen britischen Offiziere seine letzte Ruhe finden kann?
Wir wissen es nicht. Wir wissen lediglich, dass Kojève dort
begraben werden wollte, wo der Tod ihn ereilen würde.

Freitag, 23. Mai 2008

Es gibt keine Armen mehr...


Giorgio
Agamben, Idee der Prosa, Frankfurt am Main 2003,

Detail der Abbildung auf der nicht paginierten Seite 107.


Im Mai 2005 habe ich den Text transkribiert. Ein Wort blieb

in meinen Augen unlesbar. Hier das Ergebnis:


// Zum Erzähler und zu Verwandtem [; auch zu Kafka]

Man kann der Bourgeoisie nicht vom Proletariat erzählen

Es gibt keine Armen mehr. Bei Dickens spielen die Armen eine

große Rolle. [Arm] konnte auch der Bourgeois eines Tages sein; er
Ein Armer – das
konnte es über Nacht werden. Er kann aber nicht zum Proletarier

werden. – der Bettler bei Victor Hugo.

Reform der Waisenhäuser – Folge von „Oliver Twist“

Céline macht den Verwesungsgeruch nach. Filiation: figuriert

in dieser Reihe auch Joyce? Entferntere Beziehung zu B<.........>

und selbst zum „Zauberberg.“ //



[] = von Benjamin gestrichen
<> = von Hiepko nicht entziffert

Freitag, 16. Mai 2008

Cristo, Filippo et al.


Während Enrique (Christus), Giacomo (Johannes) und Otello
(Judas) auf diesem film still aus Pier Paolo Pasolinis Il Vangelo
secondo Matteo
(Das erste Evangelium - Matthäus) gesenkten
Blicks vorwärtsschreiten, richtet
Giorgio (Philippus) den Blick
nach vorne
. Der Christusmime Enrique Irazoqui (gesprochen
wurde diese Rolle von Enrico Maria Salerno) kam aus Katalonien
und studierte eigentlich Wirtschaftswissenschaften. Es scheint,
als ob er nach Pasolinis Film diese Berufung widerrief und sich
als Schauspieler versuchte. Giorgio Agamben hingegen fühlte
sich auch nach diesem Film weiterhin zu nichts berufen. Erst
die Begegnung mit Heidegger in Le Thor (1966) sollte diesem
Zustand ein Ende bereiten.

Donnerstag, 8. Mai 2008

In un giorno di maggio


Mit dem Satz "Piazza Tiananmen a Pechino in un giorno di
maggio" (Der Tiananmen-Platz in Peking an einem Maitag)
beginnt der von Antonioni gesprochene Kommentar seines
China-Films. Diese riesige Freifläche, hören wir, sei das
Zentrum des "Reichs der Mitte" und hervorragend für
Massendemonstrationen geeignet. "Wir haben es
jedoch
vorgezogen, ihn an einem beliebigen Tag zu besuchen,
wenn die Chinesen hierher kommen und Schlange stehen,
um sich fotographieren zu lassen. Sie, die Chinesen, sind
die Protagonisten dieser filmischen Notizen. Wir bilden uns
nicht ein, China erklären zu können, wir wollen lediglich
dieses große Arsenal an Gesichtern, Gesten und Gewohnheiten
etwas genauer betrachten."

"An einem beliebigen Tag", "in un giorno qualunque" – an einem
beliebigen Maitag, wenn nicht demonstriert wird, wenn keine
Großkundgebung stattfindet, kurz, wenn sich kein chinesisches
Volk konstituiert, sondern Leute einen Platz bevölkern. Hier
wird man hellhörig. Denn bekanntlich lautet der Titel des
letzten Kapitels von Giorgio Agambens Buch "Die Kommende
Gemeinschaft", bevor es um "Das Irreparable" geht, Tiananmen.
Es geht Agamben dort um die Frage, "wie man sich die Politik
der beliebigen Singulatität vorstellen" müsse. Eine erste Antwort
liest er an den Demonstrationen des Chinesischen Mai (1989) ab.
Sie lautet: "Denn die kommende Politik ist nicht mehr der Kampf
um die Eroberung oder Kontrolle des Staates [...]; sie ist die
unüberwindbare Teilung in beliebige Singularitäten und staatliche
Organisation."

An einer anderen Stelle, in den "Marginalien zu den Kommentaren
zur
Gesellschaft des Spektakels", die eine Variation über dasselbe
Thema bietet, gibt Agamben expliziter darüber Auskunft, wie
dies zu verstehen sei: "Auf dem Tiananmen-Platz sah der Staat
sich dem gegenüber, was weder repräsentiert werden kann noch
will, und was sich trotzdem als eine Gemeinschaft und als ein
gemeinsames Leben präsentiert [...]. Dass das Unrepräsentierbare
existiert und eine Gemeinschaft ohne Voraussetzungen und ohne
Bedingungen der Zugehörigkeit bildet [...], eben darin besteht
die Bedrohung, mit der der Staat sich nicht arrangieren kann."
Deshalb lautet der letzte Satz der "Kommenden Gemeinschaft":
"Wo auch immer diese Singularitäten ihr gemeinsames Sein
friedlich kundtun, wird ein Tiananmen sein und das Anrücken
der Panzer nur eine Frage der Zeit."


Dass man "Antonionis China" in den letzten 35 Jahren so gut wie
nie zu sehen bekam, liegt auch daran, dass sich die chinesischen
Machthaber durch diesen auf den ersten Blick so harmlosen Film
aufs äußerste provoziert sahen. Und auch hier wurde schweres
Geschütz aufgefahren. 1974 druckte der Pekinger Verlag für
fremdsprachige Literatur
eine deutsche Fassung jenes Pamphlets,
das Susan Sontag einmal als einen "Negativ-Katalog aller
Möglichkeiten der modernen Fotographie, des Standfotos und des
Films" bezeichnet hat. Doch während es Sontag in ihrem Essay
"The Image-world" um ästhetische Fragen geht, interessiert hier
der Negativ-Katalog aller Möglichkeiten einer kommenden Politik,
den diese Schrift ebenfalls liefert.

Denn tatsächlich löste Antonionis Besuch des Tiananmen an einem
beliebigen Tag die schärfsten Reaktionen aus: "Die Darstellung
des Tiänanmen-Platzes ist ebenfalls gemein. Die majestätische
Gesamtansicht des Tiänanmen-Platzes wird nicht einmal
wiedergegeben, das Tiänanmen-Tor, das für das chinesische Volk
ein großes Symbol ist, ist im Film klein und häßlich. Viele
Filmrollen wurden auf die den Platz bevölkernde Menschenmenge
verwendet. Mal sieht man die Menschen von fern, mal von nah,
mal von vorn, und mal von hinten. Manchmal wimmelt es auf der
Leinwand nur so von Köpfen, manchmal auch von Beinen und
Füßen. Absichtlich wurde der Tiänanmen-Platz wie ein Marktplatz
hingestellt, als ein völliges Wirrwarr."

Mit der kategorischen Scheidung in "das chinesische Volk" und eine
"den Platz bevölkernde Menschenmenge" nimmt
die durch das
"Machwerk" Antonionis herausgefordert
e Gegenpropaganda Agambens
These von der "
unüberwindbaren Teilung in beliebige Singularitäten
und staatliche Organisation
" vorweg. Was war an Antonionis Blick so
bedrohlich, dass er die chinesischen Machthaber dazu nötigte, den
Ernstfall in Gestalt der Filmkritik schon einmal durchzuspielen?

Womöglich liege ich mit der Antwort, dass Antonionis Blick ein
messianischer Blick sei, halbwegs richtig, doch in jedem Fall ist mit
ihr über diesen Film genug gesagt.