Dienstag, 6. Oktober 2015

Ist das Kommende kommod?


















Vor ziemlich genau neun Jahren, vier Jahre nach Heidi
Paris’ Tod, schrieb Rainald Goetz seine „eigene, allge-
meine Programmschrift gegen die Verzweiflung“. Ein
halbes Jahr später gab es das Weblog KLAGE auf der
Homepage des deutschen Ablegers von Vanity Fair. Es
war ein tolles Jahr, 2007: Handkes KALI, Goetz’ KLAGE,
Tocotronics KAPITULATION…

Goetz schrieb täglich, der Sonntag war in der Regel Ru-
hetag. Titel, Text und Bild standen für sich. Anfangs
hatten auch die Bilder Titel: Meer mit wild besonnten
Wolken (3. April, siehe oben). Der Titel des Textes: Die
Verstümmelten. Mit Herrmann Ungars gleichnamigen
Roman („Frau Porges meinte, es sei ein Geschäft, das
einem Mann nicht anstehe. Polzer aber wusste, wie an-
genehm und erfrischend es sei, des Morgens verläßlich
geputzte Schuhe an den Füßen zu haben, und zugleich,
daß diese Tätigkeit keineswegs etwas Unmännliches an
sich haben könne, da doch überall, wo Diener im Hause
seien, wie in Hotels und bei reichen Leuten, dieses Ge-
schäft von Männern besorgt würde.“) hatte Goetz’ Text
nichts zu tun. Er war ein antienkomiastisches Manifest:  

Missbehagen wegen Lob, Textwidrigkeit von Lob, Sozi-
alterrorismus mit Lob, Aggressivität und Destruktivi-
tät von Lob. […] Das stricherhaft Abgefuckte des Lo-
bens, Lobnutten, Lobtrottel, Trottelkartelle gegensei-
tigen Lobens […] Am extremsten hat den Weg dieser
Art von Kaputtheit und Verblödung die dahingegange-
ne Springer-Zeitschrift DER FREUND begangen. Ob man
als Autor von Elke Heidenreich mit Lob niedergestampft
wird oder vom Schleimemphatiker Volker Weidermann,
ist nur ein gradueller Unterschied an Scheußlichkeit. 

Bemerkenswert ist nicht der „schimpfende Stil“, dessen
meisterliche Beherrschung bei Goetz nicht überrascht,
sondern die diagnostische Intuition, die Weidermann in
derselben Anstalt enden sieht wie Heidenreich: der öf-
fentlich-rechtlichen. Einmal erworben scheint man sich
auf den anatomisch-klinischen Blick verlassen zu können.
Schöner Nebeneffekt: „Schleimemphatiker“ Weidermann
bewies 2012, dass er nachtragend ist und durchaus auch
anders kann: Am 1. September — eine Woche vor Ablauf
der Sperrfrist — konnte Goetz in der FAS in Weidermanns 
Johann Holtrop-Verriss lesen, dass „er so etwas wie der
grantelnde, tourettehaft vor sich hinschimpfende Dorf-
schreiber von Berlin-Mitte geworden“ sei.