Dienstag, 29. April 2008

Es wurde dieser Tage Mai


Hat man das Gesicht der chinesischen Kinder einmal gesehen,
also das, was laut Barthes den Soundtrack um ein im weiteren
Sinn erotisches Element bereichert, wird man ihr natürlich
folgen wollen, jener Tonspur, die kein geringerer gelegt hat
als Luciano Berio. Nun wird deutlich, welchen Aufwands es
bedarf, um einem Virtuosen des Kulturkonsums vom Schlage
Barthes einen auf den ersten Blick authentischen Moment zu
verschaffen, in dem das, was er als äußerst seltene Ausnahme
beschreibt, nämlich das
Vernehmlichwerden des Rauschens
der Sprache, tatsächlich passiert: hervorgebracht von echten
Kindern in einer wirklichen Schule eines ganz konkreten
chinesischen Dorfes.

In einem kurzen Text, der demnächst in einer dem Tanz
gewidmeten Aufsatzsammlung bei Merve erscheint, schildert
Berio seinen Beitrag zu Antonionis Fernsehfilm: "1972 reiste
der italienische Filmemacher
Michelangelo Antonioni in
Begleitung einer troupe von Kameramännern und Technikern
des italienischen Fernsehns in die Volksrepublik China. Man
hatte ihm erlaubt, alles (oder
so gut wie alles) zu filmen, was
er wollte. Er kehrte mit zwölf Stunden
belichtetem Material
zurück, das
höchst interessante und sehr schöne Szenen aus
dem Leben der Chinesen enthielt, die zudem bewundernswert
gefilmt waren, dann aber, den unvermeidlichen „Erfordernissen“
der Programmgestaltung des italienischen Fernsehens und der
amerikanischen ABC gehorchend, von zwölf auf vier Stunden
gekürzt wurde.
Antonioni hatte mich in einigen Fragen der
Vertonung und der Musik um Hilfe gebeten, und so hatte ich das
Glück, den Filmbericht in seiner ursprünglichen Länge sehen zu
können."


"Eine Szene beeindruckte mich besonders. Man sah Arbeiter
aus Kanton, die sich vor ihrem Gang in die Fabrik, das Fahrrad
an die Mauer gelehnt, mit geschlossenen Augen in
meditative
Tänze
versenkten, deren Bewegungsabläufe entfernt an die
alten Tänze des chinesischen Kaiserhofes erinnerten.
Mein
musikalischer Beitrag war natürlich sehr bescheiden: Ich
versuchte,
jenen schemenhaften Wiedergängern des kaiserlichen
Tanzes
mehr Konsistenz zu verleihen, indem ich vereinzelte,
sanfte Gongschläge (die sich vom Meer der Fahrradklingeln, das
in den Morgenstunden die chinesischen Städte überschwemmt,
kaum abhoben)
mit den gezierten Bewegungen der Arbeiter, die
sich
[...] in eine relativ ruhige Ecke der Straße zurückgezogen
hatten, synchronisierte."