Dienstag, 17. November 2009

Der kleine Hans


"Der kleine Hans sagt, er wünsche es sich, Kinder zu haben,
und im selben Zug, er wolle nicht, daß es noch mehr davon
gäbe. Er hat den Wunsch, imaginäre Kinder zu haben, und
das um so mehr, als die gesamte Situation sich für ihn durch
seine Identifizierung mit dem mütterlichen Begehren gelöst
hat. Er wird die Kinder seines Traumes, seines Geistes haben.
Kurz und gut, er wird Kinder haben, die in der Art des mütter-
lichen Phallus strukturiert sind, die er schließlich zum Objekt
seines eigenen Begehrens machen wird."

"Doch selbstverständlich wird er damit keine neuen Kinder
haben, und diese Identifizierung mit dem Begehren der
Mutter als imaginäres Begehren bildet nur scheinbar eine
Rückkehr zu dem kleinen Hans, der er einst war, der mit den
kleinen Mädchen dieses einfache Versteckspiel spielte, dessen
Objekt sein Geschlecht war. Jetzt denkt Hans ganz und gar
nicht mehr daran, Verstecken zu spielen, oder genauer, er
möchte ihnen nichts sonst mehr zeigen als seine schöne Statur
als kleinerHans, das heißt als die Gestalt, zu der er von einer
gewissen Seite her selbst letzten Endes geworden ist […], und
zwar so etwas wie ein Fetischobjekt."

"Der kleine Hans richtet sich in einer bestimmten passivierten
Position ein, und von welcher heterosexuellen Rechtmäßigkeit
auch sein Objekt bestimmt sein mag, so können wir doch nicht
annehmen, daß sie die Gesetzmäßigkeit seiner Position erschöpft.
Er schließt da an einen Typ an, der uns in unserer Epoche nicht
fremd erscheinen wird, dem Typ der Generation, die einen be-
stimmten, uns bekannten Stil hat, der Stil der 1945er Jahre,
dieser reizenden jungen Leute, die erwarten, daß die Unter-
nehmungen vom anderen Rand her erfolgen – die, kurz gesagt,
erwarten, daß man ihnen die Hosen auszieht. In diesem Stil
sehe ich die Zukunft dieses reizenden kleinen Hans sich ab-
zeichnen, wie heterosexuell er auch erscheinen mag."

"[…] Der kleine Hans hat seinen Penis nicht zu verlieren, denn
er erwirbt ihn ja auch nicht zu irgendeinem Zeitpunkt. Daß der
kleine Hans mit dem mütterlichen Phallus identifiziert ist, be-
sagt nicht, daß er von seinem Penis im eigentlichen Sinne die
Funktion übernehmen könnte. Es gibt keinerlei Phase einer
Symbolisierung des Penis. Gewissermaßen bleibt der Penis am
Rand, ausgerückt, wie etwas, das immer nur von der Mutter
verabscheut und verurteilt wurde, und das, was sich produziert,
erlaubt ihm die Integration seiner Männlichkeit durch keinen
anderen Mechanismus als durch die Ausbildung der Identifizie-
rung mit dem mütterlichen Phallus, die ebenfalls von einer
ganz anderen Ordnung ist als das Über-Ich, als diese ohne jeden
Zweifel verwirrende, aber auch ausgleichende Funktion, die das
Über-Ich ist. […]"

"Eben in dem Maße, wie der kleine Hans eine bestimmte Idee hat
von seinem Ideal, insofern dies das Ideal der Mutter ist, nämlich
ein Ersatz des Phallus, richtet sich der kleine Hans in der Existenz
ein. Sagen wir, daß Sie, wenn er statt einer jüdischen und in der
Fortschrittsbewegung beheimateten Mutter eine katholische und
fromme Mutter gehabt hätte, sehen könnten, durch welchen
Mechanismus bei entsprechender Gelegenheit der kleine Hans
sachte zum Priestertum, wenn nicht gar zur Heiligkeit, geleitet
worden wäre."

"[…] Der kleine Hans wird nichts anderes sein als ein Ritter, ein
Ritter mehr oder weniger unter dem Regime der Sozialversiche-
rungen, aber immerhin ein Ritter – und er wird keinen Vater
haben. Und ich glaube nicht, daß etwas Neues in der Erfahrung
der Existenz ihm diesen jemals geben wird."

"Überlassen wir diesen kleinen Hans seinem Schicksal. Doch be-
vor wir ihn verlassen, möchte ich Ihnen noch signalisieren, daß
ich, als ich seinetwegen auf eine bestimmte Entwicklung in den
Verhältnissen zwischen den Geschlechtern anspielte und mich
auf die Generation von 1945 bezog, dies mit Sicherheit nicht ge-
tan habe, um mich in eine exzessive Aktualität zu stürzen. Das
Anliegen, zu schildern und zu bestimmen, was die aktuelle Gene-
ration sein kann, und dem einen direkten und symbolischen Aus-
druck zu verleihen, überlasse ich anderen, sagen wir, Françoise
Sagan. Ich führe diesen Namen nicht zufällig an, um des bloßen
Vergnügens willen, auf Aktualität zu machen, sondern weil ich
Ihnen als Ferienlektüre, in der Nummer der Critique von August-
September 1956, zu der Studie raten möchte, die Alexandre
Kojève unter dem Titel Le Dernier Monde nouveau über die
beiden Bücher, Bonjour tristesse und Un certain sourire, der
eben von mir genannten Erfolgsautorin verfaßt hat. Sie werden
sehen können, was ein nüchterner Philosoph, gewohnt, sich auf
dem Niveau von Hegel sowie der höchsten Politik zu bewegen,
aus scheinbar so frivolen Werken herauszuholen vermag."

"Dies wird für Sie unfehlbar lehrreich sein. Und Sie werden
auch, wie man zu sagen pflegt, keinen Schaden daran nehmen,
Sie werden nichts riskieren. Der Psychoanalytiker rekrutiert
sich nicht aus dem Kreise derer, die sich den Schwankungen
der Mode in Sachen Psychosexualität voll und ganz hingeben.
Sie sind, wenn ich so sagen kann, zu gut ausgerichtet dafür,
und das sogar, wenn Sie in dieser Sache alles andere als ein
Musterschüler sind. Diese Lektüre kann für Sie den Vorteil
haben, daß Sie den Eintritt in ein Bad der Aktualität erhalten,
mit der Wirkung, daß Ihr Blick auf das, was Sie tun, und auf
das, was Sie von Ihren Patienten zu vernehmen mitunter be-
reit sein müssen, aktiviert wird. Dies wird Ihnen außerdem
zeigen, daß wir tiefgreifenden Veränderungen der Verhältnisse
zwischen Mann und Frau Rechnung tragen müssen, die zustande
kommen konnten im Verlauf einer Periode, die nicht länger ist
als die, welche uns von der Zeit Freuds trennt, in der, wie man
sagt, all das, was zu unserer Geschichte werden sollte, im Ent-
stehen begriffen war."