Der EuGH hat entschieden: Es gibt ein „Recht, vergessen
zu werden“. Diese Entscheidung wird allseits gefeiert. Es
sei ein Meilenstein für den „Datenschutz“ und so kurz vor
der Europawahl ein unmissverständliches Signal. Das ist es
allerdings. Denn das „Recht auf Vergessen“, das jetzt als
non plus ultra gefeiert wird, ist nicht bürgerrechtlichen,
sondern polizeilichen Ursprungs. Um das zu verdeutlichen,
müssen wir noch einmal auf den Erfinder der Rasterfahn-
dung zurückkommen, von dem hier erst kürzlich die Rede
war: BKA-Präsident Dr. Horst Herold (vgl. Konsumterroris-
ten vs. Nerd, 29.03.14). Der hatte im Februar 1980 in Den
Haag einen Vortrag gehalten, dessen gekürzte Fassung in
der von der Arbeitsgemeinschaft Sozialdemokratischer Ju-
risten Berlin herausgegebenen Zeitschrift Recht und Politik
(Juni 1980) überliefert ist.
Schon der Titel macht deutlich, dass sich in den letzten 34
Jahren eine fundamentale Verschiebung ereignet hat: „Po-
lizeiliche Datenverarbeitung und Menschenrechte“. Denn
heute geht es nicht mehr um die Eingrenzung „polizeilicher
Tätigkeit“, die, wie der damalige Präsident des Bundeskrimi-
nalamts ausführt, „das Sammeln, Auswerten oder Anwenden
von Informationen, also von Daten, voraussetzt“. Offensicht-
lich bewertet Herold „das Sammeln und Auswerten von Da-
ten“ als Gewalt, auf die bekanntlich der Staat das Monopol
hat. Bei der Lektüre von Herolds Überlegungen darf man al-
so nicht vergessen, dass sie im Rahmen der Verbrechensbe-
kämpfung formuliert wurden. Umso beängstigender ist es,
dass sie sich wie ein Kommentar des gerade ergangenen Ur-
teils lesen lassen.
Möglichkeiten von Angriffen auf die Menschenwürde finden
sich bereits in den Strukturen der Elektronik angelegt. Die
moderne Informationstechnologie lädt geradezu ein, die ört-
lich und sachlich gezogenen Grenzen ihrer Anwendung auf-
zuheben, die Enge und Isoliertheit der Ressorts aufzulösen,
innerstaatliche und nationale Grenzen zu überwinden und
Wissen in immer größer werdenden Speichern zu sammeln.
Die Grenzenlosigkeit der Informationsverarbeitung würde es
gestatten, das Individuum auf seinem gesamten Lebensweg
zu begleiten, von ihm laufend Momentaufnahmen, Ganzbil-
der und Profile seiner Persönlichkeit zu liefern, es in allen
Lebensbereichen, Lebensformen, Lebensäußerungen zu re-
gistrieren, zu beobachten, zu überwachen und die so gewon-
nenen Daten ohne die Gnade des Vergessens ständig präsent
zu halten.
Eben darum formuliert Herold Grundsätze, die die Gefahren,
die von der Datenverarbeitung strukturell ausgehen, begren-
zen sollen. Im Hinblick auf die Entscheidung des EuGH beson-
ders interessant ist der fünfte Grundsatz: „Programmiertes
Vergessen“:
Wahrung der Würde des Menschen bedeutet, ihn nicht immer
wieder aufs neue mit einer Vergangenheit zu konfrontieren,
von der er sich innerlich und äußerlich abgelöst hat. Daher
arbeitet auch der moderne Strafvollzug auf eine Wiederein-
gliederung des Straftäters in die Gesellschaft hin. Alle Kul-
turrechte gewähren Gnade des Vergessens früherer Strafta-
ten nach Ablauf von Zeiträumen, die nach der Schwere der
begangenen Tat bemessen sind. Auch die elektronische Da-
tenverarbeitung darf diesen Gedanken nicht missachten. Ih-
re Eigenart gestattet es, den Vorgang des Vergessens selbst
zu automatisieren. Durch Vorgabe von Löschungsfristen, die
automatisch überwacht und eingehalten werden, ist ein pro-
grammiertes Vergessen möglich. Zugleich vermag die Maschi-
ne automatisch Benachrichtigungen zu versenden, die die Po-
lizeidienststelle auf das Heranstehen von Aussonderungsfris-
ten für Kriminalakten oder sonstige polizeiliche Unterlagen
hinweisen. Das Vergessen in der Form der Vernichtung von
Unterlagen wird von der Maschine mit hoher Zuverlässigkeit
bewirkt. Dies gilt insbesondere bei Zentralisierung und Über-
tragung sämtlicher Löschungsakte von Vorgängen auf einem
zentralen Rechner. […] Der Rechner selbst verwandelt sich zu
einem an Zuverlässigkeit unüberbietbaren Kontrollorgan.