Montag, 15. September 2014

Abschied vom Homo sacer


















Die Tage sind gezählt. Diese Woche soll ein Buch erschei-
nen, mit dem ein vor fast zwei Jahrzehnten begonnenes
Projekt abgeschlossen wird: Der zweite Teil des vierten
Bandes von Giorgio Agambens Werkzyklus Homo sacer 
wird auch sein letzter sein. Auf einem Ausschnitt von
Tizians Bacchanal der Andrier, das um 1520 für Alfonso
d’Este gemalt wurde und heute im Prado hängt, steht in
Weiß der Name des Autors und der Titel: L’uso dei corpi.
„Der Gebrauch der Körper“ beschließt, was 1995 mit ei-
nem noch nicht nummerierten Buch begann: dem bald
berühmten Homo sacer. Es war ein langer Weg von „der
souveränen Macht und dem nackten Leben“ — wie seiner-
zeit der Untertitel lautete — zum „Körpergebrauch“, den
sechs weitere Teilbände säumen, oder — glaubt man der
Ankündigung Neri Pozzas, des Verlags bei dem der letzte
Teilband erscheint — sogar sieben. „Nach den acht vor-
ausgegangenen archäologischen Untersuchungen werden
hier die Ideen und Begriffe, von denen sich die analytische
Durchdringung unerforschten Gebiets leiten ließ, benannt
und ausgearbeitet.“

    
  















Auch wenn Toni Negri in seiner am 24. Februar 2012 in il
Manifesto erschienenen Besprechung von Opus Dei (Homo
sacer II,5) von einer „kapriziösen und irreführenden Spie-
lerei der Nummerierung“ spricht, ist sie womöglich — wie
bei Friedrich Kittlers Musik und Mathematik und Rainald
Goetz’ gesamtem Textkorpus — mehr als das, nämlich der
Grundriss eines Werkes, der bekanntlich erst sichtbar wird,
wenn das Gebäude niederbrennt. Zählen wir also noch ein-
mal durch:

[I]     Homo sacer
II,1   Ausnahmezustand
II,2   Herrschaft und Herrlichkeit
II,3   Das Sakrament der Sprache
[II,4]
II,5   Opus Dei
III     Was von Auschwitz bleibt
IV,1  Höchste Armut
IV,2  Der Gebrauch der Körper


















Offiziell gibt es Homo sacer II,4 nicht, d.h. es gehen dem
letzten Band nicht — wie in der Ankündigung behauptet —
acht, sondern lediglich sieben „Untersuchungen“ voraus.
Die Mitte des Werkes bliebe also leer. Doch vielleicht ist
eines der Bücher, die Agamben seit 1995 neben den Homo-
sacer-Bänden veröffentlicht hat, die Apokryphe, die diese
Leere füllt: die Noten zur Politik Mittel ohne Zweck (1996),
das Paulus-Buch Die Zeit, die bleibt (2000), das dem Tier-
Mensch-Verhältnis gewidmete Das Offene (2002), die Me-
thodologie Signatura rerum (2008), die Essaysammlungen
Profanierungen (2005) und Nacktheiten (2009) wohl eher
nicht. Darüber wird man länger nachdenken können.