Sonntag, 9. November 2008

Nacktheit vs. Blöße


Wer auch immer das Buch Agambens übersetzen wird, das
demnächst bei den edizioni nottetempo erscheinen soll,
sie oder er wird zunächst ein Problem lösen müssen: Wie
dessen Titel zu übersetzen sei. Der soll allem Anschein nach
nämlich Nudità lauten. Wofür soll man sich entscheiden, für
Nacktheit oder Blöße? Es ist die alte Frage
: die "dekonstruktive"
Lösung oder die "strategische"? Denn "strategisch" war die
Entscheidung für "nacktes Leben" in doppelter Hinsicht: Zum
einen sollte sie Agambens Konzept von Benjamins Prägung
(bloßes Leben) abheben, zum anderen war sie implizit gegen
die Vereinnahmung Agambens durch eine dekonstruktive
Lesart gerichtet. Wir erinnern uns:
Im Januar 2001, mehr als
ein Jahr bevor
Hubert Thürings Übersetzung des ersten Teils
von Homo sacer bei Suhrkamp erschien, brachte die Zeitschrift
Literaturen ein Gespräch, das Hanna Leitgeb und Cornelia
Vismann mit dem italienischen Philosophen in Venedig geführt
hatten. Diesem Gespräch nachgeschaltet war ein Text Anselm
Haverkamps, der "Giorgio Agambens Werk" im "größeren
philosophischen Kontext verorten" sollte.

In diesen, wie es im Untertitel heißt, "Anmerkungen zu einem
lebenswichtigen Buch" geht Haverkamp auf den Zusammenhang
von Agambens nuda vita mit Benjamins bloßem Leben erst gar
nicht ein. Vielmehr scheint er seine Entscheidung für "bloßes
Leben" aus den Worten selber ableiten zu wollen: "«Homo sacer»
sucht den politischen Sachverhalt an der rechtlichen Quelle auf,
dem Ursprung der Verwaltung «bloßen Lebens». [...] Es sind die
Substrukturen des römischen Reichs, in denen das Dasein zum
ersten Mal zu bloßem Leben wird. Agambens Verfallsgeschichte
des Daseins ist die Entblößungsgeschichte des Lebens. Denn
dessen Blöße ist keine natürliche Nacktheit, sondern wird durch
juristische Entblößung verursacht." Diese allem Anschein nach
stringente Argumentation verunsicherte mich damals ein wenig.
Denn sie rief mir in Erinnerung, dass ich mich 1998, als ich den
kurzen Aufsatz Die absolute Immanenz übersetzte, nach langem
Abwägen schließlich für die "natürliche Nacktheit" entschieden
hatte: "In der Geschichte der abendländischen Wissenschaft
stellt die Absonderung dieses nackten Lebens ein in jedem Sinn
grundlegendes Ereignis dar" (Bartleby oder die Kontingenz gefolgt
von Die absolute Immanenz
, Berlin, Merve, 1998, S. 107).

Deshalb erwartete ich das Erscheinen der deutschen Übersetzung
von Homo sacer. Il potere sovrano e la nuda vita mit besonderer
Spannung. Wie würde der Untertitel auf deutsch lauten? 2002 war
es dann endlich soweit. Ich hielt mein Exemplar in den Händen und
las nicht ohne eine gewisse Genugtuung: "Die souveräne Macht und
das nackte Leben". In den "Anmerkungen zur Übersetzung und zur
Zitierweise" wurde diese Wortwahl folgendermaßen kommentiert:
"Trotz des eindeutigen Bezugs auf Walter Benjamins bloßes Leben
wurde, nach Abwägung der Bedeutungsfelder und zur Unterstreichung
der eigenständigen Entwicklung und Prägung des Begriffs durch den
Autor, la nuda vita mit das nackte Leben übersetzt." Selbstredend
war mit diesem Kommentar der Streit um die Wahl der Worte alles
andere als entschieden. Das gerade Gegenteil war der Fall: Nun
hatten die zwei Lager, aus denen sich die ersten Agambenianer im
deutschen Sprachraum rekrutierten auch ihr Schibboleth: Welches
Attribut kommt dem Leben des homo sacer zu? (Ironischerweise
enthält diese Frage selbst das S[ch]ibboleth 'sazer'/'saker'.)

Im Frühjahr 2005 erhielt die Frage nach Nacktheit und Blöße eine
entscheidende Wendung.
Auf Einladung des Wissenschaftkollegs
hielt sich Agamben für zwei Monate in Berlin auf. Und bereits in
unserem ersten Gespräch kam Agamben darauf zu sprechen, dass
seine deutschen Freunde ein Problem mit der Übersetzung des
Homo sacer hätten, vor allem mit der Übersetzung von nuda vita.
Er fragte mich, wie ich zu dem Problem stehen würde. Gerade
war Eva Geulens Giorgio Agamben zur Einführung bei Junius
erschienen. Dort waren die Vorbehalte der "deutschen Freunde"
unter dem Zwischentitel Das nackte Leben (Aristoteles, Foucault,
Benjamin) noch einmal rekapituliert worden: "Auf die Frage, was
Gegenstand der ausschließenden Einschließung in der Ausnahme
ist, antwortet das »nackte Leben« im Untertitel seines Buches.
Das dem Recht oft als vorgängig angenommene, eigentlich aber,
so argumentiert Agamben, von ihm qua Herausnahme erst
konstituierte Phänomen ist also das bloße Leben. Das nackte
oder bloße (und entblößte) Leben ist nicht eine vorgängige
Substanz, sondern ein nach Abzug aller Formen verbleibender
Rest". So bestrickend diese Denkfigur auch sein mochte, ich
verteidigte tapfer das "nackte Leben".

Ein paar Tage später traf ich Agamben zufällig wieder: in der
Schlange der Wartenden, die zu Vanessa Beecrofts Performance
in der
Neuen Nationalgalerie wollten. Er wurde von Jennifer Allen
begleitet, die später in einem Internetmagazin von dem Abend
berichtete: "Als wir schließlich unsere Nasen gegen Mies' grandiose
Vitrine pressten, konnte Agamben seine Enttäuschung nur schlecht
verbergen: «Pantyhose. . . ma no!» Der italienische Philosoph begann
von der «vita nuda» zu sprechen und stellte mir eine Frage, die ihn
schon seit Jahrzehnten beschäftigen würde. «How do you imagine
people in the perfect world: dressed or naked?»" Auf Allans Antwort,
dass "Nackheit nur ein anderes outfit sei" soll er erwidert haben:
"For theologians, there was no nudity in paradise. Adam and Eve
discovered their nudity only after the Fall, when they covered their
genitals with fig leaves." Am nächsten Tag klingelte bei mir das
Telefon. Agamben war am Apparat. Die Veranstaltung habe ihn
dermaßen verärgert, dass er sich mit einem "kleinen Text" habe
Luft machen müssen. Wenig später öffnete ich ein Dokument mit
dem Arbeitstitel: Sulla nudità. Die Übersetzung erschien am 12.
April unter dem von der Redaktion gewählten Titel Das verlorene
paradiesische Kleid in der FAZ. Eigentlich hätte er Teologia della
nudità, also Theologie der Nacktheit oder Blöße lauten sollen.

Im Rückblick glaube ich sagen zu können, dass Theologie der Blöße
wohl die beste Wahl gewesen wäre. Denn im Zentrum des kurzen
Textes steht das Zitat eines "modernen Theologen", anhand dessen
Agamben beweisen möchte, dass Vanessa Beecroft "in rückhaltloser
Komplizenschaft mit der christlichen Theologie, mit der sie, ohne
sich dessen bewußt zu sein, völlig gesättigt war, nichts anderes
ausstellt als die Unmöglichkeit der Nacktheit". Den Namen seines
theologischen Gewährsmanns gibt Agamben jedoch im Text nicht
preis. Mittlerweile dürfte dessen Identität ein offenes Geheimnis
sein. Bei dem Zitat handelt sich um eine Stelle aus Erik Petersons
Artikel
Theologie des Kleides, der 1934 in der Benediktinischen
Monatschrift
erschien. Liest man diesen "kurzen Text" ganz, kann
man gar nicht übersehen, dass Agamben in seiner "Besprechung"
der Per
formance einen versteckten Kommentar zum Streit um
nacktes vs. bloßes Leben gibt. Im Licht der Ausführungen des
Theologen Peterson erhalten die Argumente Haverkamps und
Geulens nämlich einen besonderen Glanz:

"Von einer Nacktheit des Körpers zu sprechen, die sichtbar
geworden ist, weil einem »die Augen aufgetan« worden sind,
hat aber nur unter der Annahme einer vorausgegangenen
Entkleidung einen Sinn. Erst die Entblößung des Leibes führt
zu der Wahrnehmung des nackten Körpers, und so mußte
denn auch zuerst die »Entblößung« des Leibes des ersten
Menschen eingetreten sein, ehe sie sich der »Nacktheit«
ihres Körpers bewußt werden konnten. Diese »Aufdeckung«
des Leibes, die die »nackte Körperlichkeit« sichtbar werden
läßt, diese schonungslose Entblößung des Leibes mit allen
Kennzeichen seiner Geschlechtlichkeit, die als Folge der
ersten Sünde für die jetzt »aufgetanen Augen« sichtbar wird,
läßt sich nur unter der Annahme begreifen, daß vor dem
Sündenfall »bedeckt« war, was jetzt »aufgedeckt« wird, daß
vorher verhüllt und bekleidet war, was jetzt enthüllt und
entkleidet wird."

Vor diesem Hintergrund wird man wohl vermuten dürfen, dass
die "politischen Überlegungen", die den FAZ-Artikel beschließen,
nicht nur gegen die von Beecroft betriebene "Komplizenschaft
von Ware und Theologie" gerichtet waren, sondern auch auf
die theologischen Bestände dekonstruktiven Denkens zielte:
"Was wir wiederfinden müssen, ist Adams Nacktheit, bevor Gott
ihm das Glorienkleid überstreifte. Jedoch weder als verlorenen
Naturzustand noch als Verheißung eines kommenden, sondern
als etwas, das wir hier und heute Stück für Stück von dem
theologischen Gewebe befreien müssen, das es umhüllt."