Sonntag, 23. November 2008

Tiqqun


Tiqqun, Theorie vom Bloom, Zürich-Berlin, diaphanes, 2003.

Am 19. November 2008 erschien in Liberation ein von Martin
Rueff übersetzter Artikel Giorgio Agambens mit dem Titel:

Terrorismus oder Tragikomödie

Im Morgengrauen des 11. November umstellten 150 Polizisten,
überwiegend Angehörige von Antiterroreinheiten, ein 350-Seelen-
Dorf auf der Hochebene von Millevaches, bevor sie einen Bauern-
hof stürmten und neun junge Leute festnahmen - die
die Épicerie
übernommen hatten
, um das kulturelle Leben des Dorfes wieder-
zubeleben. Vier Tage später sind die neun Verhafteten einem
Antiterrorrichter vorgeführt worden: die Anklage lautete auf
»kriminelle Vereinigung in terroristischer Absicht«. Die Zeitungen
berichten, dass sich der Innenminister und der Staatschef »bei
der Polizei und der Gendarmerie für ihren Diensteifer (diligence)
bedankt haben«. Es scheint also alles in Ordnung zu sein. Wir wollen
die Fakten jedoch etwas genauer betrachten, um den Grund und das
Ergebnis dieses »Diensteifers« besser beurteilen zu können.

Zunächst der Grund: Die jungen Leute standen »unter polizeilicher
Beobachtung, weil sie der extremen Linken, der anarcho-autonomen
Bewegung angehören«. Aus dem Umfeld des Innenministers heißt es
ergänzend, dass »sie sehr radikale Meinungen
vertreten und
Verbindungen zu ausländischen Gruppierungen unterhalten«. Doch
damit nicht genug: Einige der Verhafteten »nehmen regelmäßig an
politischen Demonstrationen teil«, zum Beispiel »an der gegen die
Edvige-Datei und der gegen die Verschärfung der Maßnahmen gegen
Einwanderung«. Politische Parteinahme (welche Bedeutung könnte
ein Wortungetüm wie »anarcho-autonome Bewegung« sonst haben),
die aktive Ausübung politischer Freiheiten, die Äußerung radikalen
Gedankenguts sind also Grund genug, um die Anti-Terror-Abteilung
der Polizei
, die Sous direction antiterroriste de la police (SDAT) und
das Zentralbüro des Nachrichtendienstes, die Direction centrale du
renseignement intérieur
(DCRI) in Bewegung zu setzen. Nun wird
jedoch jeder, der ein Mindestmaß an politischem Bewusstsein besitzt,
angesichts der Einschränkung der demokratischen Rechte durch die
Edvige-Datei, der biometrischen Dispositive und der Verschärfung
der Einwanderungsbestimmungen die Beunruhigung dieser jungen
Leute teilen.

Nun zu den Ergebnissen: Man wird erwarten, dass die Ermittler auf
dem Bauernhof von Millevache Waffen, Sprengstoff und Molotow-
Cocktails gefunden haben. Weit gefehlt. Die Polizeibeamten der
SDAT fanden »Dokumente, die Angaben dazu enthalten, wann die
Züge die jeweilige Gemeinde passieren, und ein Verzeichnis der
Ankunfts- und Abfahrtszeiten für jeden Bahnhof«. Auf gut deutsch:
einen Fahrplan der SNCF. Darüber hinaus wurde »Klettergerät«
sichergestellt. Auf gut deutsch: eine Leiter, wie man sie in jedem
x-beliebigen Bauernhaus finden kann.

Wenden wir uns schließlich den festgenommenen Personen zu, vor
allem der Person des mutmaßlichen Chefs dieser Terrorbande, »dem
33-jährigen
Anführer, der aus einem wohlhabenden Pariser Milieu
stammt und von der Unterstützung seiner Eltern lebt«. Es handelt
sich um Julien Coupat, einen jungen Philosophen, der vor einigen
Jahren mit Freunden die Zeitschrift Tiqqun ins Leben gerufen hat,
deren politische Analysen man zwar nicht in jedem Punkt teilen muss,
die jedoch bis heute zum Intelligentesten gehören, was diese Zeit
vorzuweisen hat. Ich lernte Julien Coupat seinerzeit kennen und habe
v
om intellektuellen Standpunkt aus betrachtet vor ihm auch heute
noch die größte Hochachtung.

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