Mittwoch, 12. Juni 2013

Siebzig verweht


















Wäre Friedrich Kittler nicht am 18. Oktober 2011 gestor-
ben, könnte er heute seinen 70. Geburtstag feiern. Gerne
denke ich an die Zeit zurück, als Kittler die Ruhr-Universi-
tät Bochum verließ, um den Lehrstuhl für Ästhetik und Ge-
schichte der Medien der Humboldt-Universität Berlin zu be-
ziehen. Zwanzig Jahre ist das nun her, Kittler hatte gerade
sein fünfzigstes Lebensjahr vollendet und sollte im Novem-
ber den Siemens-Medienkunstpreis des Zentrums für Kunst
und Medientechnologie in Karlsruhe für seine Forschungen
auf dem Gebiet der Medientheorie erhalten. Auf dem Foto,
das wohl von Katrin Paul stammt, unterhält er sich mit dem
Jurymitglied Wulf Herzogenrath. Im Vordergrund sitzt Bill
Viola, der den Medienkunstpreis für seine Arbeiten auf dem
Gebiet der Medienkunst erhielt.

Siebzehn Jahre später, gleiche Stadt, gleicher Monat: Am 9.

November 2010 hält Peter Sloterdijk in seinem Tagebuch fest,
dass „Hubert seine Freunde Bredekamp, Belting, Brock, Kittler,
Ullrich und [ihn] auf dem Karlsruher Podium versammelt [habe],
um in heiterer urbaner Atmosphäre [ihr] Buch In medias res zu
präsentieren“. In den im August 2012 unter dem Titel Zeilen und
Tage erschienenen Auszügen aus Sloterdijks Notizheften schließt
sich eine Evaluation der Performance Kittlers an, die man durch-
aus als schonungslos bezeichnen darf: 

„In einem rührenden Moment bot Kittler mir nach langen Jahren

das Du an, wobei er sich auf das Vorrecht des Älteren berief. Er
ist sichtlich in sehr zerbrechlicher Verfassung, physisch und men-
tal. Die Analogie seiner Lage zu Nietzsches innerer Drift springt
ins Auge. Lang ist es her, daß er mit seinem dorischen Intellektu-
alismus für die apollinische Seite Partei ergriff. Spät streckte der
Rationalist vor dem Widersacher die Waffen, jetzt siegt sich Dio-
nysos in ihm mit Wein, Musik und Delir zu Tode.“

DEMORTUISNILNISIBENE